Rechtsprechungsreport Produktrecht 2023
Artikel als PDF herunterladenLiebe Mandantinnen und Mandanten,
liebe Geschäftsfreundinnen und Geschäftsfreunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
in unserem Rechtsprechungsreport Produktrecht 2023 stellen wir Ihnen aktuelle produktrechtliche Entscheidungen vor. Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir uns für eine Binnendifferenzierung entschieden und die Entscheidungen den Kategorien „Marktüberwachung“, „EU-Stoffrecht“, „Wettbewerbsrecht“, „Gewährleistung und Produkthaftung“ sowie „Akkreditierung“ zugeordnet. In jedem dieser Felder ist es zu Entscheidungen von übergeordneter Bedeutung gekommen, die die zu beachtenden produktrechtlichen Anforderungen konkretisieren oder zumindest konturieren und selbstverständlich Berücksichtigung in unserer Beratungspraxis finden werden.
Wir wünschen Ihnen – wie immer – viele neue und nützliche Erkenntnisse bei der Lektüre.
Herzliche Grüße
Ihr Franßen & Nusser Produktrechtsteam
I. Marktüberwachung
1. Übersetzung der Leistungserklärung nur durch Hersteller
VG Berlin, Urt. v. 28.10.2021 – 13 K 26/20
Die Klägerin handelt u.a. mit Dämmstoffen, bei welchen es sich um europäisch harmonisierte Bauprodukte handelt. Für diese Produkte konnte erst nach Aufforderung der Marktüberwachungsbehörde eine deutsche Übersetzung der in polnischer Sprache zur Verfügung gestellten Leistungserklärung vorgelegt werden. Die Marktüberwachungsbehörde untersagte den Verkauf der betroffenen Dämmstoffe, wobei die Anordnung unter der auflösenden Bedingung stand, dass eine Leistungserklärung in deutscher Sprache beigefügt wird. Ferner gab die Marktüberwachungsbehörde der Klägerin auf, nachzuweisen, von wem sie die betroffenen Dämmstoffe bezieht. Die Klägerin wendet sich gegen die Anordnung und macht u.a. geltend, dass die Untersagung durch die deutsche Marktüberwachungsbehörde ein Verstoß gegen die unionsrechtlich garantierte Warenverkehrsfreiheit darstelle.
Ohne Erfolg. Rechtsgrundlage der Untersagungsverfügung ist Art. 59 Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (EU-BauPVO) , wonach der Mitgliedstaat alle geeigneten Maßnahmen treffen kann, falls die Leistungserklärung nicht in Übereinstimmung mit der EU-BauPVO erstellt wird. Gemäß Art. 7 Abs. 4 EU-BauPVO muss die Leistungserklärung in der Sprache vorgelegt werden, die in dem Mitgliedstaat, in dem das Produkt bereitgestellt wird, vorgeschrieben ist. Deutschland schreibt hierfür die deutsche Sprache vor (§ 6 BauPG). Da die Leistungserklärung nicht vom Hersteller in der deutschen Sprache zur Verfügung gestellt wurde, liegt eine Nichtkonformität im Sinne des Art. 59 EU-BauPVO vor. Eine Übersetzung durch den (Zwischen-) Händler sei nicht ausreichend. Ferner greife auch die Argumentation mit der Warenverkehrsfreiheit nicht durch, da das europäische Primärrecht keine Anwendung finde.
Hinweis: Dieser Praxisfall zeigt, dass Wirtschaftsakteure, die Bauprodukte aus anderen EU-Mitgliedstaaten beziehen, dafür sorgen müssen, dass bereits der Hersteller eine Leistungserklärung in deutscher Sprache zur Verfügung stellt. Es ist sinnvoll, eine entsprechende Pflicht des Verkäufers (sei er selbst Hersteller oder nur Zwischenhändler) vertraglich zu vereinbaren, um Schäden durch etwaige Marktüberwachungsmaßnahmen in der Lieferkette weitergeben zu können.
2. Vereinbarkeit von Totschlagtierfallen mit der 9. ProdSV (Maschinenverordnung)
VG Freiburg, Urt. v. 14.12.2021 – 9 K 3417/20
Die Klägerin wendet sich gegen eine Ordnungsverfügung, mit der ihr die Bereitstellung von Totschlagtierfallen untersagt worden ist. Mit Anschreiben vom 9. März 2020 monierte die Marktüberwachungsbehörde auf der Grundlage der RL 2006/42/EG (Maschinenrichtlinie) bzw. der 9. Produktsicherheitsverordnung (9. ProdSV) u.a. eine fehlende CE-Kennzeichnung und EU-Konformitätserklärung. Da die Klägerin die Mängel nicht beheben konnte, ist der Klägerin die Bereitstellung der Produkte mit Ordnungsverfügung im Oktober 2020 untersagt worden. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Totschlagtierfallen nicht in den Anwendungsbereich der Maschinenrichtlinie fallen. Die Anbringung einer CE-Kennzeichnung und die Ausstellung einer EU-Konformitätserklärung sei für die Produkte daher nicht erforderlich. Die Totschlagtierfallen seien vielmehr auf der Grundlage des ProdSG vermarktbar und würden im Übrigen internationalen Fangnormen entsprechen.
Die Klage ist unbegründet, da die angegriffene Ordnungsverfügung rechtmäßig ist. Rechtsgrundlage der Ordnungsverfügung ist § 26 Abs. 2 S. 1 Produktsicherheitsgesetz (ProdSG a.F.) Danach können die Marktüberwachungsbehörden die Bereitstellung von Produkten auf dem Gemeinschaftsmarkt untersagen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass das betroffene Produkt nicht den geltenden Anforderungen der Maschinenrichtlinie bzw. der 9.ProdSV entspricht. Anders als die Klägerin meint, sind die Anforderungen der 9. ProdSV i.V.m. den Vorgaben der Maschinenrichtlinie anwendbar, da es sich bei den streitgegenständlichen Fallen um Maschinen i.S.d. Rechtsakte handelt. Schließlich funktionieren die Totschlagsfallen über eine Federspannung und werden damit nicht nur über die unmittelbar menschlich oder tierisch eingesetzte, sondern über die gespeicherte Kraft der Federspannung, betrieben. Außerdem lösen die Feder bzw. der damit verbundene Hebel einen beweglichen Mechanismus aus, nämlich das Zuklappen der Falle. Weder die 9. ProdSV noch die Maschinenrichtlinie kennen eine wirtschaftliche oder technische „Bagatellgrenze“. Auch kleinste oder einfach funktionierende Gerätschaften können daher als „Maschinen“ gelten. Die maschinenrechtlichen Anforderungen werden darüber hinaus entgegen der Ansicht der Klägerin nicht von internationalen Fangnormen verdrängt. Dies hat das VG Freiburg insbesondere mit der Zielrichtung der Maschinenrichtlinie begründet, die vor allem dem Schutz von Menschen dient. Die internationalen Fangnormen verfolgen hingegen den Schutz der gejagten Tiere. Da die Produkte weder eine CE-Kennzeichnung aufwiesen und die Klägerin keine EU-Konformitätserklärung vorlegen konnte, durfte die Marktüberwachungsbehörde die Bereitstellung der Fallen untersagen.
Hinweis: Diese Entscheidung verdeutlicht, dass auch einfachste Konstruktionen als Maschinen dem Anwendungsbereich der 9. ProdSV und der Maschinenrichtlinie unterfallen können, da der Maschinendefinition keine Bagatellgrenze zu entnehmen ist. Fragwürdig ist aber, ob eine Anwendbarkeit der strengen maschinenrechtlichen Sicherheitsanforderungen und CE-Kennzeichnungspflicht auch für einfache bewegliche Konstruktionen ohne Gefahrenpotenzial gerechtfertigt ist oder ob für derartige Konstruktionen entgegen der Entscheidung des VG Freiburg eine Bagatellgrenze anzunehmen ist. Denn bei einer stringenten Auslegung des Maschinenbegriffs würden etwa auch Kugelschreiber als Maschinen unter dem Anwendungsbereich der Maschinenrichtlinie fallen und demnach einer CE-Kennzeichnungspflicht unterliegen. Dies stellt sich aber im Hinblick auf das fehlende Gefahrenpotenzial für Kugelschreiber als nicht gerechtfertigt dar.
3. Gerichtliche Zuständigkeit für Klagen gegen Bescheide der Zentralen Stelle Verpackungsregis-ter (ZSVR)
VG Osnabrück, Beschluss vom 24.1.2022 – 3 A 1/21
Im Fokus der Entscheidung steht die örtliche Zuständigkeit für Klagen gegen Bescheide der ZSVR. Die Klägerin hat Klage gegen die in Osnabrück ansässige ZSVR vor dem VG Osnabrück erhoben. Zwischen den Parteien streitig war v.a. eine etwaige Einstufung der ZSVR als Bundesbehörde, bundesunmittelbare Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts und damit die Anwendbarkeit der Zuständigkeitsvorschrift des §§ 52 Nr. 2 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Das VG Osnabrück ist für Klagen gegen die ZSVR nicht zuständig. Nach § 52 Nr. 2 S. 1 VwGO ist bei Anfechtungsklagen gegen den Verwaltungsakt einer „Bundesbehörde oder einer bundesunmittelbaren Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts“ das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die „Bundesbehörde, die Körperschaft, Anstalt oder Stiftung“ ihren Sitz hat (hier Osnabrück). Bei der beklagten ZSVR handelt es sich jedoch weder um eine Bundesbehörde noch um eine bundesunmittelbare Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts. Schließlich ist die Beklagte eine Stiftung bürgerlichen Rechts (vgl. § 24 Abs. 1 VerpackG) und agiert nicht im Sinne von § 52 Nr. 2 S. 1 VwGO als Beliehene des Bundes. Die ZSVR ist außerdem keine von dem Bund selbst eingerichtete oder dem Bund zugehörige Verwaltungseinheit und deshalb nicht als eine Bundesbehörde einzustufen. Die ZSVR ist nach der Auffassung des VG Osnabrück vielmehr als eine „privatrechtlich organisierte Behörde“ einzustufen, die bundesweit tätig ist. Deshalb ergibt sich die örtliche Zuständigkeit für Klagen gegen die ZSVR aus § 52 Nr. 3 S. 2 Alt. 1 VwGO. Gemäß dieser Vorschrift ist für Klagen gegen eine bundesweit tätige Behörde das Verwaltungsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Beschwerte seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Demnach hätte die Klägerin die Klage vor dem Verwaltungsgericht erheben müssen, welches für den Wohnsitz der Klägerin örtlich zuständig ist (hier VG Gelsenkirchen).
4. Anfechtung eines Feststellungsbescheids der Stiftung Zentrale Stelle Verpackungsregister (ZSVR)
VG Trier, Urt. v. 22.06.2022 – 9 K 391/22.TR
Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Feststellungsbescheids, mit dem die ZSVR eine Tragetasche als systembeteiligungspflichtige Verpackung eingeordnet hat. Die Klägerin stellt Verpackungsprodukte aller Art aus Papier und Kunststoff her und vertreibt diese. Zu ihrem Sortiment zählen auch sog. Permanenttragetaschen aus recyceltem PET in verschiedenen Größen. Infolge eines Feststellungsantrages eines anderen Unternehmens, welches nicht zu der Klägerin gehört, erließ die ZSVR den streitgegenständlichen Feststellungsbescheid mit folgendem Tenor:
„Die Tasche aus Kunststoff mit zwei Henkeln, Zierdruck und dem Aufdruck „V*** (B/T/H 48cm x 15cm x 38cm) in der Ausführung gemäß den in der Anlage beigefügten Abbildungen ist bei Abgabe in einem Bekleidungsgeschäft an einen Kunden eine systembeteiligungspflichtige Verpackung im Sinne von § 3 Abs. 8 Verpackungsgesetz (VerpackG).“
Unstreitig ist, dass die Klägerin die von dem Feststellungsbescheid erfasste Tasche weder selbst herstellt noch vertreibt. Die Klägerin ist im Wesentlichen der Auffassung, dass es sich bei der im Bescheid angeführten Tragetasche nicht um eine Verpackung, sondern um ein Produkt handelt. Die Beklagte ist hingegen der Ansicht, dass die Klägerin durch den angegriffenen Bescheid bereits nicht in ihren eigenen Rechten betroffen sei.
Die Klage hat keinen Erfolgt. Grund für die Klageabweisung war die fehlende Klagebefugnis der Klägerin. Zunächst hat das VG Trier ausgeführt, dass es sich bei der angegriffenen Entscheidung der ZSVR um eine Allgemeinverfügung handelt, welche die öffentlich-rechtliche Eigenschaft der Tragetasche verbindlich regelt (Einstufung als Systembeteiligungspflichtige Verpackung). Derartige Verfügungen können im Wege des Widerspruchs und der Anfechtungsklage von klagebefugten Wirtschaftsakteuren angegriffen werden. Im vorliegenden Fall kam das VG Trier jedoch zu dem Ergebnis, dass die angegriffene Verfügung der ZSVR nur eine konkrete Tragetasche eines konkreten Herstellers betrifft. Die Klägerin hat nicht vorgebracht, die von dem Feststellungsbescheid erfasste Tragetasche herzustellen oder zu vertreiben. Auch eine etwaige Vergleichbarkeit der von der Klägerin vertriebenen Tasche mit der von der ZVSR-Verfügung erfassten Tasche würde nach der Ansicht des Gerichts nicht für die Begründung der erforderlichen Klagebefugnis ausreichen.
Hinweis: Eine Übersicht zu den Einordnungsentscheidungen der ZSVR kann über https://www.verpackungsregister.org/stiftung-behoerde/einordnungsentscheidungen/systembeteiligungspflichtige-verpackungen abgerufen werden. Die Entscheidung des VG Trier zeigt, dass Rechtsschutzmöglichkeiten gegen diese Verfügungen der ZSVR bestehen. Zugleich hat das Gericht die Möglichkeit der Erhebung einer zulässigen Klage eher eng ausgelegt, in dem eine Klagebefugnis nur für Hersteller der konkret in dem jeweiligen ZSVR-Bescheid angeführten Verpackungen/Produkte angenommen worden ist.
5. Produktrechtliche Einstufung von Nicotine Pouches
VG Ansbach, Urt. v. 27.07.2022 – AN 14 K 20.02641
Die Klägerin wendet sich gegen eine lebensmittelrechtliche Verkehrsverbots- und Rücknahmeanordnung. Zum Sortiment der Klägerin gehören u.a. sog. Nicotine Pouches (tabakfreie Nikotinbeutel). Hierbei handelt es sich um kleine verschlossene Beutel, die einzeln hinter die Ober- oder Unterlippe geschoben werden und dort 15 bis 60 Minuten verbleiben. Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beurteilte gutachterlich mehrere Nicotine Pouches aufgrund des Nikotingehalts als gesundheitsschädlich und damit nicht verkehrsfähig. Laut den Gutachten handele es sich bei Nicotine Pouches um Lebensmittel, da sie zur oralen Aufnahme durch den Menschen bestimmt seien. Im November 2020 hat das Landratsamt das Inverkehrbringen der Produkte gegenüber der Klägerin untersagt und zugleich eine Produktrücknahme angeordnet. Die Klägerin ist der Ansicht, dass es sich bei diesen Produkten nicht um Lebensmittel, sondern um verkehrsfähige Tabakerzeugnisse handele. Schließlich seien die Nicotine Pouches nicht dazu bestimmt, von Menschen „aufgenommen zu werden“.
Das VG Ansbach hat die Klage abgewiesen. Nach der Auffassung des Gerichts sind die Nicotine Pouches als gefährliche Lebensmittel einzustufen, weshalb das Verbot des Inverkehrbringens der Produkte sowie die Anordnung der Produktrücknahme rechtmäßig ist. Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Anordnung ist Art. 138 Abs. 1 und Abs. 2 der EU-Verordnung über die über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel (VO (EU) 2017/625). Hiernach können die zuständigen Behörden die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um einen Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften zu beenden und zu beseitigen. Zu den erforderlichen Maßnahmen i.S.d. Rechtsgrundlage gehören u.a. ein Verbot des Inverkehrbringens sowie die Rücknahme von Lebensmitteln. Nach der Ansicht des VG Ansbach handelt es sich bei den Nicotine Pouches um Lebensmittel i.S.v. Art. 2 Abs. 1 der EU-Verordnung zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (VO (EG) 178/2002), weil diese nach ihrem bestimmungsgemäßen Gebrauch von Menschen aufgenommen werden. Auf eine Klärung der im Lebensmittelrecht umstrittenen Fragestellung, ob eine „Aufnahme“ i.S.d. Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 ein Gelangen in den Magen-Darm-Trakt erfordert, kam es nach der Ansicht und den Feststellungen des VG Ansbach nicht an, da jedenfalls die in den Nicotine Pouches enthaltenen Süß- und Aromastoffe bei bestimmungsgemäßem Gebrauch in den menschlichen Magen-Darm-Trakt gelangen und damit i.S.v. Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 „aufgenommen“ werden. Im Übrigen folgte das Gericht den Feststellungen des LGL, nach denen die Nicotine Pouches als gefährlich eingestuft worden sind. Da gefährliche Lebensmittel gem. Art. 14 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 nicht vertrieben werden dürfen, stellt sich das Verbot des Inverkehrbringens sowie die Rücknahmeanordnung als rechtmäßig dar.
Hinweis: Die Entscheidung des VG Ansbach konkretisiert insbesondere den Lebensmittelbegriff. Leider musste das Gericht dabei keine Entscheidung über die nach wie vor umstrittene Frage treffen, ob der Begriff der „Aufnahme“ i.S.v. Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 voraussetzt, dass das etwaige Lebensmittel in den menschlichen Magen-Darm-Trakt gelangt. In diesem Zusammenhang ist auf den Beschluss des OVG Hamburg vom 18. August 2021 hinzuweisen, in dem das OVG Hamburg für die Annahme einer „Aufnahme“ i.S.v. Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 vorausgesetzt hat, dass die betreffenden Erzeugnisse bzw. dessen Inhaltsstoffe bei bestimmungs- bzw. erwartungsgemäßem Gebrauch (zumindest auch und in nicht bloß marginalem Umfang) über den Magen-Darm-Trakt in den menschlichen Körper gelangen.
6. Zulässigkeit der digitalen Anzeige zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert bei nicht selbstständigen Waagen
OVG NRW, Urt. v. 08.09.2022 – 4 A 1278/21
Die Parteien streiten über die Frage, ob die Anzeige zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert für nichtselbsttätige Waagen ausschließlich über ein Display erfolgen kann. Die Klägerin ist Herstellerin von Waagen, welche beim Wiegen das Eingreifen einer Bedienungsperson erfordern (sog. nichtselbsttätige Waagen) und zur gewerblichen Verwendung bestimmt sind. Die Anzeige zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert erfolgt bei den Waagen ausschließlich digital über ein Display. Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Waagen der Klägerin nicht den Anforderungen aus Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Bereitstellung nichtselbsttätiger Waagen auf dem Markt (Richtlinie 2014/31/EU) und dem Eich- und Messgesetzes (MessEG) entsprechen. Hiernach müssen die Aufschriften zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert für nicht selbstständige Waagen „gut sichtbar, leserlich und dauerhaft“ sein. Deshalb hat die Beklagte der Klägerin im April 2020 die Bereitstellung der Waagen untersagt. Hiergegen wendet sich die Klägerin erstinstanzlich ohne Erfolg. Gegen das klageabweisende Urteil des VG Köln hat die Klägerin Berufung vor dem OVG Nordrhein-Westfalen eingelegt.
Die Berufung hat Erfolg. Die angegriffene Ordnungsverfügung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Rechtsgrundlage der Verfügung ist § 50 Abs. 2 MessEG. Hiernach können die Marktüberwachungsbehörden u.a. die Bereitstellung von nicht selbstständigen Waagen untersagen, wenn diese nicht den einschlägigen Produktanforderungen des MessEG bzw. der Richtlinie 2014/31/EU entsprechen. Entgegen der Entscheidung des VG Köln kam das OVG Nordrhein-Westfalen im Berufungsverfahren zu dem Ergebnis, dass die klägerischen Waagen den hier in Frage stehenden Anforderungen nach § 13 Abs. 1 MessEG entsprechen. Die Aufschrift zur Höchstlast, Mindestlast und zum Eichwert kann nach der Ansicht des Berufungsgerichts auch über eine rein digitale Anzeige erfolgen. Insoweit hat das OVG Nordrhein-Westfalen zunächst ausgeführt, dass der Wortlaut der Vorschrift einer digitalen Anzeige nicht entgegensteht. Außerdem liegt der Sinn und Zweck dieser Produktanforderung darin, dass der Verwender bei der Benutzung der Waage erkennen kann, ob sich die von ihm beabsichtigte Nutzung der Waage noch im vorgesehenen „Zulassungsbereich“ der Waage bewegt. Dieser Erkenntnisgewinn wird auch von einer digitalen Anzeigeform ermöglicht, solange die Anzeigeergebnisse gegen einen Missbrauch geschützt sind und im Sichtbereich der Verwender angezeigt werden. Im Übrigen hat das OVG NRW ausgeführt, dass dem § 13 MessEG ein weites und technologieoffenes Begriffsverständnis zugrunde liegt, was dagegenspricht, dass der Gesetzgeber die für die Anzeige geltenden Produktanforderungen auf eine physikalische bzw. schriftliche Anzeige beschränken wollte.
7. Anfechtung des Verbots der Rückgabe von Pflanzenschutzmittel an den Verkäufer
VG Aachen, Beschl. v. 28.09.2022 – 7 K 612/22
Die Klägerin ist ein Agrarhandelsunternehmen, welches u.a. das Pflanzenschutzmittel „Synergy Generics Metamitron“ des britischen Unternehmens Synergy Generics Limited vertreibt. Das Mittel wurde vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zugelassen. Die Klägerin hatte das Mittel von einem dritten Lieferanten bezogen. Im Rahmen einer Probeuntersuchung ist festgestellt worden, dass das bei der Klägerin vorrätige Pflanzenschutzmittel in seiner Zusammensetzung nicht der BVL-Zulassung entspricht. Daraufhin ist der Klägerin das Inverkehrbringen und das sonstige Verbringen des Pflanzenschutzmittels verboten worden. Zur Begründung führte der Pflanzenschutzdienst aus, dass ein nicht der Zulassung entsprechendes Pflanzenschutzmittel nicht in den Handel gebracht werden dürfe. Außerdem sei eine Rückgabe der Pflanzenschutzmittel an den Lieferanten und der Export zu verbieten, um ein erneutes und rechtswidriges Inverkehrbringen der Produkte im EU-Binnenmarkt auszuschließen. Die Klägerin hat erklärt, dass Pflanzenschutzmittel im EU-Binnenmarkt nicht mehr in den Verkehr bringen zu wollen. Schließlich habe sich der dritte Lieferant gegenüber der Klägerin verpflichtet, die streitgegenständlichen Pflanzenschutzmittel zurückzunehmen, ihr den Kaufpreis zu erstatten und das Mittel in einen Drittstaat zu exportieren. Diese Vorgehensweise könne ihr nicht untersagt werden.
Die Klage hat Erfolg. Zunächst hat das VG Aachen den Streitgegenstand dahingehend konkretisiert, dass sich die Klägerin ausschließlich gegen das Verbot der Rückgabe der Pflanzenschutzmittel an den Lieferanten mit dem Ziel eines anschließenden Exports in einen Drittstaat wendet. Rechtsgrundlage der angegriffenen Verfügung ist Art. 138 der Verordnung über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel (VO (EU) Nr. 2017/625). Hiernach ergreift die zuständige Behörde bei Verstößen gegen pflanzenschutzmittelrechtliche Vorgaben geeignete Maßnahmen, um den Rechtsverstoß zu beenden und neue Verstöße zu verhindern. Vorliegend hat das Gericht einen Verstoß i.S.d. Art. 138 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2017/625 festgestellt, weil die bei der Klägerin vorrätigen Pflanzenschutzmittel eine Zusammensetzung aufwiesen, die nicht der BVL-Zulassung entspricht. Dementsprechend haben die bei der Klägerin festgesetzten Pflanzenschutzmittel keine gültige Zulassung und sind nicht verkehrsfähig. Auf der Grundlage des Art. 138 VO (EU) Nr. 2017/625 kann jedoch ein Export in ein Drittstaat außerhalb der EU allenfalls dann untersagt werden, wenn mit einer hinreichenden Sicherheit davon auszugehen ist, dass die Mittel nach dem Export innerhalb des EU-Binnenmarktes erneut rechtswidrig in den Verkehr gebracht werden. Schließlich reguliert die EU-Pflanzenschutzmittelverordnung allein den EU-Binnenmarkt und stellt Exporte von Pflanzenschutzmitteln in einen Drittstaat nicht unter einen Zulassungsvorbehalt. Die Beklagte konnte nach den Feststellungen des Gerichts nicht mit einer hinreichenden Sicherheit belegen, dass die von der Klägerin beabsichtigte Rückgabe der Pflanzenschutzmittel an den Lieferanten und der beabsichtigte Export die Gefahr eines erneuten und rechtswidrigen Inverkehrbringens der Mittel im EU-Binnenmarkt birgt.
Hinweis: Die Entscheidung des VG Aachen verdeutlicht, dass sich die behördlichen Eingriffsbefugnisse grundsätzlich auf Maßnahmen mit Wirkung für den EU-Binnenmarkt beschränken müssen. Entsprechendes gilt im Kontext der europäischen CE-Rechtsakte. Produkte, die nicht den einschlägigen CE-Anforderungen entsprechen und deshalb im EU-Gemeinschaftsmarkt nicht verkehrsfähig sind, können grundsätzlich in einen Drittstaat exportiert werden.
8. Abgrenzung Lebensmittel von Kosmetikprodukten (CBD-Öl)
VG Würzburg, Beschl. v. 19.12.2022 – W 8 S 22.1676
Die Antragstellerin vertreibt CBD-Öle und wendet sich gegen einen Bescheid, in welchem ihr das Inverkehrbringen mehrerer CBD-Öle untersagt worden ist. Nach der Auffassung der Antragsgegnerin ergebe sich der Verdacht, dass die CBD-Öle in der Konzentration 15 % CBD gesundheitsschädliche Lebensmittel i.S.d. Art. 14 Abs. 2 lit. a) der Verordnung zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (VO (EG) 178/202) darstellen. Grundlage dieses Verdachts ist ein Gutachten des Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). Die Antragsgegnerin untersagte der Antragstellerin das Inverkehrbringen der Öle. Gegen die Untersagung wendet sich die Antragstellerin im Wege eines Eilverfahrens. Die Antragstellerin ist der Ansicht, dass es sich bei den CBD-Ölen nicht um Lebensmittel handele. Außerdem sei eine Gesundheitsschädlichkeit der Öle nicht nachgewiesen.
Der Antrag hat Erfolg. Nach den Ausführungen des Gerichts stellt sich die Verfügung nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig dar. Rechtsgrundlage des Verbots ist vorliegend Art. 138 Abs. 1 lit. b) der Verordnung über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel (VO (EU) 2017/625). Hiernach ergreifen die zuständigen Behörden, wenn sie einen Verstoß gegen das Lebensmittelrecht festgestellt haben, geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der lebensmittelrechtliche Verstoß beendet wird und dass erneute Verstöße verhindert werden. Nach der Auffassung VG Würzburg stellen die Öle Lebensmittel dar, weil diese dazu bestimmt sind von Menschen aufgenommen zu werden. Der Begriff des Lebensmittels ist weit auszulegen. Maßgeblich für die Einordnung als Lebensmittel ist nicht die Beschaffenheit oder Eignung des Produktes, sondern seine nach der Verkehrsauffassung zu beurteilende Zweckbestimmung. Ausgehend von diesen Maßstäben ist nach vernünftigem Ermessen zu erwarten, dass die Öle von Menschen aufgenommen werden und den Magen-Darm-Trakt durchlaufen. Dies folgt schon daraus, dass die streitgegenständlichen Öle nach der Anwendungsempfehlung unter die Zunge getröpfelt werden und dort mindestens eine Minute einwirken sollen. Hierdurch werden die Inhaltsstoffe der Öle über die Mundschleimhaut in den menschlichen Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Im Ergebnis stellt sich die angegriffene Verfügung voraussichtlich dennoch als rechtswidrig dar, weil die Antragsgegnerin eine Gesundheitsschädlichkeit nicht hinreichend belegt hat. Grundsätzlich ist dieser Rechtsbegriff im Lebensmittelrecht zwar weit auszulegen, eine nur theoretische Möglichkeit reicht jedoch nicht aus. Außerdem darf die Annahme einer Gesundheitsschädlichkeit nicht nur auf abstrakten und allgemeinen Erwägungen beruhen. Davon ausgehend kann dem Gutachten des LGL keine ordnungsgemäße Risikobewertung der streitgegenständlichen Öle entnommen werden. Denn Grundlage des Gutachtens war eine Verzehrmenge von neun Tropfen. Insoweit beruht die LGL-Risikobewertung auf einer falschen Tatsachengrundlage, weil nach der Produktauslobung und den Anwendungshinweisen nur ein Tropfen des Öls gleichzeitig in den Mund getropft werden soll. Bezüglich dieser Verzehrmenge hat die Antragsgegnerin jedoch keine Risikobeurteilung vorgenommen, weshalb keine hinreichende Grundlage für die Annahme einer Gesundheitsschädlichkeit vorliegt.
9. Auslegung des Begriffs des Inverkehrbringens nach TabakerzG
LG Nürnberg-Fürth, Beschl. vom 09.01.2023 – 12 Qs 52/22
Die Beschuldigte ist Geschäftsführerin einer GmbH. Sie wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen einen Beschlagnahmebeschluss. Im Juli 2022 kontrollierten Beamte des Zolls wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Schmuggels einen Lkw, der unterschiedliche Tabakerzeugnisse der Beschuldigten geladen hatte. Im September ordnete der Ermittlungsrichter die Beschlagnahme zahlreicher im Lager der GmbH sichergestellter Tabakerzeugnisse an. In der Folge hat sich der Verdacht des gewerbsmäßigen Schmuggels nicht erhärtet. Allerdings hält die Staatsanwaltschaft wegen eines Teils der sichergestellten Tabakerzeugnisse eine Strafbarkeit gem. § 34 Abs. 1 Nr. 4 lit. c) des Gesetzes über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (TabakerzG) für gegeben, weil die Beschuldigte entgegen § 11 TabakerzG Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch in Verkehr gebracht habe.
Die Beschwerde gegen die Beschlagnahme der Tabakerzeugnisse ist unbegründet, weil der Verdacht eines vorsätzlichen Verstoßes gegen § 34 Abs. 1 Nr. 4 lit. c) TabakerzG besteht und die beschlagnahmten Erzeugnisse als Beweis- und als Einziehungsgegenstände in Betracht kommen. Das strafbewährte Verbot des § 34 Abs. 1 Nr. 4 lit. c) TabakerzG i.V.m. § 11 TabakerzG gilt für das Inverkehrbringen aller zum oralen Gebrauch bestimmter Tabakerzeugnisse mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Inhalieren oder Kauen bestimmt sind. Insoweit hat das Landgericht bei seiner Entscheidung zunächst einen hinreichenden Verdacht dahingehend festgestellt, dass die verfahrensgegenständlichen Tabakerzeugnisse als nicht verkehrsfähige Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch i.S.d. § 11 TabakerzG zu qualifizieren sind. Schließlich handelt es sich bei den Erzeugnissen um sog. Tabak Pouches, d.h. Tabak enthaltende Beutel, die nicht gekaut, sondern in die Mundhöhle gelegt werden, um das Nikotin über die Mundschleimhaut aufzunehmen. Diese Tabakerzeugnisse hat die Beschuldigte außerdem mutmaßlich entgegen § 11 TabakerzG bereits in den Verkehr gebracht. Art. 2 Nr. 40 der Richtlinie zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen (RL 2014/40/EU) definiert das Inverkehrbringen als die entgeltliche oder unentgeltliche Bereitstellung von Produkten für Verbraucher, die sich in der Union befinden. § 1 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) TabakerzG bestimmt weiter, dass die Definition des Inverkehrbringens im Anwendungsbereich des TabakerzG mit der Maßgabe gilt, dass jede Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Gemeinschaftsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit erfasst wird. Nach den Ausführungen des Landgerichts hat der Gesetzgeber damit herbeiführen wollen, dass bereits die Lagerhaltung von Tabakerzeugnissen als Inverkehrbringen einzustufen ist, wenn die jeweiligen Erzeugnisse für den EU-Gemeinschaftsmarkt bestimmt und zum Verkauf angeboten werden. Hiervon ausgehend befanden sich die beschlagnahmten Erzeugnisse in einer Lagerhaltung, die vorliegend bereits als tatbestandliches Inverkehrbringen zu verstehen war. Denn ausweislich des Durchsuchungsvermerks wurden die beschlagnahmten Tabakerzeugnisse in der Lagerhalle der GmbH in einzeln bezeichneten Warenreihen vorgefunden. Geschäftsgegenstand der GmbH war und ist außerdem der Groß- und Einzelhandel mit Lebensmitteln, Alkohol und Tabakwaren im EU-Gemeinschaftsmarkt. Damit spricht nach den Feststellungen des Landgerichts alles dafür, dass die beschlagnahmten Tabakerzeugnisse für die Abgabe an Einzelhändler oder an Endkunden im EU-Gemeinschaftsmarkt bestimmt und dazu eingelagert waren.
Hinweis: Mit dieser Entscheidung hat das Gericht ein Inverkehrbringen der im Lager festgesetzten Tabakerzeugnisse vor deren tatsächlichen Abgabe an einen Dritten angenommen und dabei maßgeblich auf den Zeitpunkt des Angebots der Erzeugnisse im EU-Gemeinschaftsmarkt abgestellt. Eine entsprechende Auslegung des Begriffs des Inverkehrbringens lässt sich unter Heranziehung des Leitfadens für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2022 („Blue Guide“, 2022/C 247/01) auch im Kontext der CE-Rechtsakte begründen. Schließlich begründet bereits ein an den EU-Gemeinschaftsmarkt gerichtetes Angebot von fertig hergestellten Produkten einen Marktzugang zum Gemeinschaftsmarkt und berührt demnach die mit den EU-Harmonisierungsrechtsakten verfolgten Ziele des EU-Gesetzgebers.
10. Unionsrechtliche Anspruch von Marktteilnehmern auf Vervollständigung einer RAPEX-Meldung
EuGH, Urt. v. 17. Mai 2023 - C-626/21
Die Landespolizeidirektion Wien (LPD) hat nach den geltenden österreichischen Rechtsvorschriften bei einem Händler von pyrotechnischen Gegenständen festgestellt, dass bestimmte Arten bei diesem Händler vorrätiger Feuerwerkskörper für Anwender nicht handhabungssicher waren. Es handelt sich dabei um Feuerwerkskörper, die von Funke, einem polnischen Unternehmen, aus China in die EU eingeführt werden. Die LPD sprach gegen den österreichischen Händler ein Verkaufsverbot für diese Gegenstände aus und ordnete ihren Rückruf vom Markt an. In der Folge fand eine EU-weite RAPEX-Meldung statt, mit der die Produkte als nicht sicher ausgewiesen worden sind. Funke ist der Ansicht, dass die betroffenen Erzeugnisse in der RAPEX-Meldung nicht ordnungsgemäß beschrieben worden seien. Die RAPEX-Meldung durch das LPD müsse um die konkrete Chargennummer der betroffenen Produkte ergänzt werden. Erst hiernach sei ersichtlich, dass die RAPEX-Meldung nur die im Jahre 2017 hergestellten Feuerwerkserzeugnisse betreffe. Funke hat vor den österreichischen Gerichten einen Antrag auf Ergänzung der RAPEX-Meldung durch das LPD gestellt. Der Antrag ist von dem Verwaltungsgericht Wien zurückgewiesen worden. Nach Auffassung des Gerichts habe keinen einklagbaren Anspruch auf Ergänzung der RAPEX-Meldung. Ein solcher ergebe sich weder aus dem österreichischen Recht noch aus dem einschlägigen Unionsrecht. Gegen diese Entscheidung hat Funke eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof erhoben, welcher die Rechtsfrage zur Entscheidung dem EuGH vorgelegt hat.
In seinem Urteil vom 17. Mai 2023 hat der EuGH zunächst ausgeführt, dass der meldende Mitgliedstaat sicherzustellen hat, dass eine nach Art. 22 der Verordnung Nr. 765/2008 erstattete RAPEX-Meldung insbesondere in Bezug auf die zur Identifizierung der betreffenden Produkte erforderlichen Daten formal richtig und möglichst vollständig sein muss. Der meldende Mitgliedsstaat ist hiernach verpflichtet, eine insoweit unzureichende RAPEX-Meldung zu berichtigen oder zu vervollständigen. Daran anknüpfend kam der EUGH zu dem Ergebnis, dass die für RAPEX geltenden Vorschriften dahin auszulegen sind, dass sie einem Wirtschaftsakteur, dessen Interessen durch eine RAPEX-Meldung beeinträchtigt werden könnten, wie etwa einem Einführer der in dieser Meldung genannten Produkte, das Recht verleihen, von den zuständigen Behörden des meldenden Mitgliedstaats die Vervollständigung dieser Meldung zu verlangen.
II. EU-Stoffrecht
1. Vorgehen gegen Einstufung eines Stoffes als SVHC (Kandidatenliste-ECHA)
EuG, Urteil vom 23.02.2022 – T-636/19
Die Antragstellerin ist ein niederländisches Unternehmen, welches den Stoff HFPO-DA importiert und innerhalb der EU handelt. Im Juli 2019 hat die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) den Stoff auf der Grundlage des Art. 58 lit. f) der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH-Verordnung) in die Kandidatenliste für besonders Besorgniserregende Stoffe (SVHC) aufgenommen. Die Antragstellerin wendet sich vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) gegen die Aufnahmeentscheidung der ECHA. Die Antragstellerin ist der Ansicht, dass HFPO-DA keine Eigenschaften aufweise, die eine Einstufung als SVHC rechtfertigen würden. Im Übrigen sei die Aufnahme des Stoffes in die Kandidatenliste unverhältnismäßig.
Der EuG hat den Antrag der Antragstellerin abgewiesen. Ein Stoff kann in die Kandidatenliste der ECHA aufgenommen werden, wenn er die in Art. 58 lit. f) REACH-Verordnung definierten Eigenschaften aufweist und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wahrscheinlich schwerwiegende Wirkungen auf die menschliche Gesundheit oder auf die Umwelt hat, die ebenso besorgniserregend sind, wie diejenigen anderer in Art. 58 Buchstaben a) bis e) REACH-Verordnung aufgeführter Stoffe. Zunächst hat sich der EuG mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Aufnahmeentscheidung auseinandergesetzt und diese als hinreichend bewertet. In diesem Zusammenhang hat der EuG hervorgehoben, dass sich die Bewertung des Stoffes als SVHC als hochkomplex darstellt, weshalb der ECHA ein Beurteilungsfreiraum einzuräumen ist, der zu einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit der Aufnahmeentscheidung führt. Die Überprüfbarkeit beschränkt sich nach der Europäischen Rechtsprechung bei derart komplexen Sachverhalten darauf, ob die wissenschaftlichen Bewertungen nachvollziehbar sind und sich innerhalb der vom EU-Gesetzgeber aufgestellten Ziele und Rahmenbedingungen bewegen. Ist dies wie hier der Fall, obliegt es dem Beschwerdeführer nachzuweisen, dass die wissenschaftlichen Bewertungen der ECHA unzutreffend sind, was der Antragstellerin vorliegend jedoch nicht gelungen ist. Im Übrigen stellt sich die Aufnahmeentscheidung der ECHA auch als verhältnismäßig dar. Insoweit hat der EuG ausgeführt, dass die Aufnahme eines Stoffes in die ECHA-Kandidatenliste nicht zu einer Beschränkung des Inverkehrbringens führt. Schließlich folgt aus Art. 58 REACH-Verordnung, der die Aufnahme von Stoffen in Anhang XIV regelt, dass Kandidatenstoffe nicht zwangsläufig in den Anhang XIV aufgenommen und dementsprechend den Beschränkungen des Inverkehrbringens nach Art. 56 REACH-Verordnung unterliegen werden.
2. Zur Möglichkeit der Aufstellung von Stoffbeschränkungen durch die EU-Kommission mittels Durchführungsverordnungen zur Ökodesign-Richtlinie
EuG, Urt. v. 16.3.2022 - T-113/20
Die Parteien streiten vor dem EuG über die Wirksamkeit des mit der Durchführungsverordnung zur Ökodesign-Richtlinie erlassenen Verbots der Verwendung von halogenierten Flammschutzmitteln (HFR) in elektronischen Displays, Gehäusen sowie Ständern, siehe Anhang II Abschnitt D Nr. 4 2019/2021/EU (Durchführungsverordnung). Bei der Klägerin handelt es sich um eine Vereinigung zur Interessenvertretung von Bromherstellern und Herstellern, von Produkten auf Brombasis und bromverwandten Technologien. Zu diesen Produkten zählen auch HFR. Die Klägerin stützte ihre Klage insbesondere darauf, dass die EU-Kommission für die Festlegung der stoffrechtlicher Anforderungen in einer Durchführungsverordnung zur der Richtlinie 2009/125/EG zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte (Ökodesign-Richtlinie) nicht zuständig sei. Die stoffliche Beschränkung hätte nach der Ansicht der Klägerin allenfalls auf der Grundlage der RoHS-Richtlinie oder der REACh-Verordnung erlassen werden können.
Das EuG hat die Klage abgewiesen. Die angegriffene Durchführungsverordnung verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorschriften und ist daher wirksam. Entgegen der klägerischen Ansicht können stoffliche Beschränkungen ebenfalls auf der Grundlage der Ökodesign-Richtlinie erlassen werden. Weder die RoHS-Richtlinie noch die REACh-Verordnung haben im Hinblick auf die Aufstellung von Stoffbeschränkungen gegenüber der Ökodesign-Richtlinie einen absoluten Anwendungsvorrang. Die bloße Möglichkeit, die Verwendung von HFR etwa im Rahmen der RoHS-Richtlinie oder der REACH-Verordnung zu beschränken, kann die Zuständigkeit der EU-Kommission für den Erlass von Anforderungen an die Verwendung dieser Stoffe im Rahmen der Ökodesign-Richtlinie daher nach der Ansicht des EuG nicht einschränken. Im Übrigen enthalten weder die Richtlinie 2011/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten (RoHS-Richtlinie) noch die REACh-Verordnung Bestimmungen im Hinblick auf die von der EU-Kommission verbotene HFR-Verwendung. Sie lassen eine HFR-Verwendung auch nicht zu, so dass die angegriffene Durchführungsverordnung nicht gegen die REACh-Verordnung oder die RoHS-Richtlinie verstößt. Außerdem hat der EuG ausgeführt, dass das angegriffene Verwendungsverbot für HFR nicht wegen Sicherheitsaspekten, sondern wegen Recyclingproblemen aufgestellt worden ist und demnach gerade nicht darauf abzielt, HFR in elektronischen Displays wegen der Gefährlichkeit dieser Stoffe zu verbieten. Wegen dieser Zielrichtung des Verbots ist dieses als „Ökodesignbestimmung“ einzustufen und damit dem Regelungsbereich der Ökodesign-Richtlinie zuzuordnen.
Hinweis: Die in dem Urteil des EuG getroffenen Erwägungen stehen ganz im Einklang mit einer derzeit auf europäischer Ebene anzutreffenden Entwicklung dahingehend, der Kommission weitreichende Kompetenzen im Bereich der Regulierung stoffrechtlicher Anforderungen für Produkte einzuräumen. Beachtlich ist, dass der EuG in diesem Zusammenhang nunmehr ausdrücklich festgestellt hat, dass die unmittelbar stoffrechtsbezogenen Produktrechtsakte in diesem Zusammenhang keine Sperrwirkung entfalten. Die Kommission darf diesbezügliche Bestimmungen initiativ grundsätzlich auch unter Ökodesign-Gesichtspunkten festlegen. Ganz ausdrücklich hat sich dieser Prozess nun auch offensichtlich auf den von der Kommission am 30. März 2022 veröffentlichten Entwurf für eine europäische Ökodesign-Verordnung ausgewirkt, welche die Ökodesign-Richtlinie künftig ersetzen soll. So sieht der Verordnungsentwurf eine Ermächtigungsgrundlage für die EU-Kommission vor, nach denen diese Verwendung von besorgniserregenden Stoffen (SVHC) in Produkten, die sich negativ auf die Wiederverwendung und das Recycling auswirken, mittels Durchführungsmaßnahmen verbieten und beschränken kann, sieh Art. 5 lit. g) Ökodesign-Verordnungsentwurf.
3. Voraussetzungen der Zulassung eines Wirkstoffes für Biozidprodukte
EuG, Urt. v. 16.11.2022 - T-122/20
Die Antragstellerin stellt Biozidprodukte her und begehrt die Zulassung von Silber-Zeolith als Wirkstoff für Biozidprodukte der Kategorien 2 (Desinfektionsmittel und Algenbekämpfungsmittel, die nicht für eine direkte Anwendung bei Menschen und Tieren bestimmt sind) und 7 (Beschichtungsschutzmittel). Für den Nachweis der Wirksamkeit des Stoffes übermittelte die Antragstellerin Produktproben an die für eine Zulassung zuständige EU-Kommission. Im November 2019 lehnte die EU-Kommission die Zulassung von Silber-Zeolith als Wirkstoff für die Biozidkategorien 2 und 7 ab, weil es der Antragstellerin nicht gelungen sei, eine den Produktkategorien 2 und 7 entsprechende Wirksamkeit nachzuweisen. Insbesondere sei die von der Antragstellerin behauptete Wirksamkeit von Silber-Zeolith mit den von der Antragstellerin übermittelten Produktproben nicht hinreichend nachgewiesen worden. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Antragstellerin vor dem EuG. Sie ist der Ansicht, dass es für eine Zulassung als Biozid-Wirkstoff nicht darauf ankomme, ob der betroffene Stoff in den konkret übermittelten Produktproben wirksam ist, sondern ob der Stoff als solcher nach einer abstrakten Betrachtung eine hinreichende Wirksamkeit in Biozidprodukten der Kategorien 2 und 7 haben kann.
Das EuG hat den Antrag der Antragstellerin abgewiesen. Grundlage der Zulassung von Wirkstoffen für Biozidprodukte ist Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 der Verordnung (EU) 528/2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (Biozid-VO). Hiernach ist Voraussetzung für die Zulassung eines Stoffes als Biozid-Wirkstoff der Nachweis der Wirksamkeit des Stoffes für die von dem jeweiligen Antragsteller behauptete Wirkweise. Im Rahmen der Zulassungsentscheidung muss nach den Ausführungen des EuG zwingend die Wirksamkeit des Stoffes für die jeweils betroffene Produktkategorie anhand der konkret übermittelten Produktproben beurteilt werden. Eine von der jeweiligen Produktprobe losgelöste und rein abstrakte Wirksamkeitsbewertung ist nicht zulässig. Die Antragstellerin konnte die Wirksamkeit von Silber-Zeolith als Wirkstoff für Biozidprodukte der Kategorien 2 und 7 mit den übermittelten Produktproben nicht nachweisen. Der EuG bestätigte insoweit die Feststellungen der EU-Kommission, nach denen die Antragstellerin die Wirksamkeit von Silber-Zeolith mit den übermittelten Produktproben insbesondere nicht unter realistischen Worst-case-Bedingungen, unter denen das Biozidprodukt verwendet werden könnte, nachgewiesen hat, siehe Art. 19 Abs. 2 lit. a) Biozidproduktenverordnung.
4. Voraussetzungen für die harmonisierte Einstufung eines Stoffes als karzinogen nach Verord-nung 1272/2008/EU
EuG, Urt. v. 23.11.2022 - Rs. T-279/20, T-288/20 und T-283/20
Die Klägerinnen sind Herstellerinnen, Importeurinnen, nachgeschaltete Anwenderinnen und Lieferantinnen von Titandioxid. Titandioxid ist ein anorganischer chemischer Stoff, der insbesondere in Form eines Weißpigments wegen seiner färbenden und deckenden Eigenschaften in diversen Produkten wie Farben, Beschichtungsstoffen, Lacken, Kunststoffen, Laminatpapier, Kosmetik, Arzneimitteln oder Spielzeug verwendet wird. Im Februar 2020 erließ die EU-Kommission auf der Grundlage der Stellungnahme des Ausschusses für Risikobeurteilung (RAC) die von den Klägerinnen angefochtene Delegierte Verordnung (EU) 2020/217, mit der sie u. a. die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid als karzinogen vornahm. In Anhang VI Teil 1 Nr. 1.1.3.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen (CLP-Verordnung) ist die Toxizität von Titandioxid wie folgt beschrieben worden: „Es wurde festgestellt, dass die Gefahr einer karzinogenen Wirkung dieses Stoffes besteht, wenn lungengängiger Staub in Mengen eingeatmet wird, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der natürlichen Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen führen.“ Im Übrigen enthält die angefochtene Verordnung den Hinweis, dass die Einstufung als ‚karzinogen bei Einatmen‘ nur für Gemische in Pulverform gilt, die ein Gehalt von mindestens 1 % Titandioxid aufweisen. Die Klägerinnen haben vor dem EuG die Erklärung der Nichtigkeit der Delegierten Verordnung (EU) 2020/217 beantragt. Sie sind im Kern der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine harmonisierte Einstufung von Titanoxid als karzinogen nicht vorliegen würden.
Die Klagen haben Erfolg. Der EuG hat die angefochtene Verordnung für nichtig erklärt. Die Voraussetzungen und Maßstäbe für eine harmonisierte Einstufung von Stoffen als karzinogen ergeben sich aus Art 3 Abs. 1 der CLP-Verordnung i.V.m. Art. 36 Abs. 1 lit. c), Anhang I Abschnitt 3.6 CLP-Verordnung. Nach den Ausführungen des EuG kann dabei ein Stoff nur dann als karzinogen eingestuft werden, wenn der jeweilige Stoff aus „intrinsischen Eigenschaften“ krebserzeugend ist. Dies bedeutet, dass eine Einstufung als karzinogen für einen Stoff nur dann gerechtfertigt ist, wenn sich die krebserzeugenden Wirkungen unmittelbar aus den Eigenschaften des Stoffes ergeben. Vorliegend hat die EU-Kommission die Einstufung von Titandioxid nach der Ansicht des EuG als karzinogen jedoch auf bestimmte Formen von Titandioxidpartikel beschränkt, die außerdem in einem bestimmten Aggregatzustand (Pulver), einer bestimmten Größe (≤ 10 μm) und einer bestimmten Menge (1 % Titandioxid) vorhanden sein müssen. Liegen diese Eigenschaften vor, kann es nach den Ausführungen der EU-Kommission zu einer Lungenüberlastung kommen, die wiederum krebserzeugend sein kann. Die damit seitens der EU-Kommission vorgetragene krebserzeugende Wirkung von Titandioxid beruht insoweit jedoch nach den Ausführungen des EuG nicht auf „intrinsischen Eigenschaften“ von Titanoxid, sondern vielmehr auf Umstände bzw. Aggregatzustände, die nicht unmittelbar mit den Eigenschaften von Titandioxid zusammenhängen.
Hinweis: Frankreich und die EU-Kommission haben gegen das Urteil des EuG Rechtsmittel beim EuGH eingelegt. Die Rechtsmitteleinlegung führt vorliegend zu einer aufschiebenden Wirkung mit der Folge, dass die von dem EuG für nichtig erklärte delegierte Verordnung bis zu einer endgültigen Entscheidung des EuGH wirksam bleibt. Das Verfahren vor dem EuGH wird unter den Aktenzeichen C-82/23 P und C-71/23 P geführt, siehe https://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&td=ALL&num=T-279/20.
5. Voraussetzungen für die Zulassungen von Stoffen nach Art. 60 Abs. 4 REACH-Verordnung
EuGH, Urt. v. 20.04.2023 - C-144/21
Im Jahr 2022 hat die EU-Kommission nach vorherigem Antrag einen Beschluss mit der Zulassung von insgesamt fünf Verwendungskategorien von Chromtrioxid erlassen. In diesem Beschluss hat die Kommission u.a. ausgeführt, dass die Zulassung gemäß Art. 60 Abs. 4 der Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), (REACH-Verordnung) erteilt werden konnte, weil die sozioökonomischen Nutzen die Risken überwiegen würden, die sich aus der Verwendung des Stoffes für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben. Zuvor hatte die ECHA jedoch darauf hingewiesen, dass die durch die Antragsteller vorgelegten Daten nicht zuverlässig seien. Das Europäische Parlament hat gegen den Beschluss Nichtigkeitsklage bei dem EuGH erhoben. Der Beschluss ist nach der Ansicht des Europäischen Parlaments aufzuheben, weil für die Zulassung der Chromtrioxid-Verwendungen keine hinreichende Datenlage existiere. Außerdem bestünden Unsicherheiten bezüglich der Frage, ob es geeignete Alternativstoffe oder -technologien gebe.
Der EuGH hat die Entscheidung der Kommission vom 18. Dezember 2020 über die Erteilung einer Zulassung für bestimmte Verwendungen von Chromtrioxid für teilweise nichtig erklärt. Nach Auffassung des EuGH sind die Voraussetzungen für die nichtig erklärten Zulassung gemäß Art. 60 Abs. 4 REACH-Verordnung nicht erfüllt. Nach Art. 60 Abs. 4 REACH-Verordnung kann eine Zulassung erteilt werden, wenn nachgewiesen wird, dass der sozioökonomische Nutzen die Risiken überwiegt, die sich aus der Verwendung des Stoffes für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben, sofern keine geeigneten Alternativstoffe oder -technologien für den Stoff existieren. Nach den Ausführungen des EuGH sind die Risiken, die sich aus der zugelassenen Verwendung von Chromtrioxid ergeben können, nicht abschließend beurteilt worden. Demnach ist es der EU-Kommission nach der Ansicht des EuGH nicht möglich gewesen, festzustellen, ob der sozioökonomische Nutzen die Risiken überwiegt, die sich aus der Verwendung des Stoffes für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt ergeben. Insbesondere sind die Daten, die die Antragsteller zur Exposition der Arbeitnehmer und der Allgemeinbevölkerung vorgelegt haben, im Hinblick auf die beantragten Verwendungen nicht repräsentativ, nicht zuverlässig und nicht vollständig gewesen. Auf der Grundlage einer derart unsicheren Tatsachenlage hätte die EU-Kommission keine Zulassung erteilen dürfen.
Hinweis: Die Europäische Kommission wird über die Zulassung der betroffenen Verwendungskategorien unter Achtung des Urteils erneut entscheiden. Eine entsprechende Entscheidung steht noch aus.
III. Wettbewerbsrecht
1. Pflicht zur Mitteilung von Gefahrenhinweisen in einem Katalog
LG Köln, Urt. v. 03.02.2022 33 O 109/20
Die Beklagte warb in einem Katalog u.a. für Reinigungsmittel. Bei den Reinigungsmitteln handelt es sich um als gefährlich eingestufte Gemische i.S.d. Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen (CLP-Verordnung). Gefahrenhinweise nach der CLP-Verordnung waren in dem Katalog nicht enthalten. Die Klägerin machte klageweise geltend, dass die Beklagte es im geschäftlichen Verkehr unterlassen müsse, die Reinigungsmittel ohne die erforderlichen Gefahrenhinweise im Katalog zu bewerben. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die auf den Etiketten der Produkte "L" und "O1" enthaltenen Gefahrenhinweise auch im Katalog der Beklagten abgedruckt werden müssen. Der Verweis auf Gefahrenhinweise in einem anderen Medium - etwa der Internetseite der Beklagten - sei nicht ausreichend.
Das LG Köln hat der Unterlassungsklage stattgegeben. Nach Auffassung des Gerichts hat die Beklagte gegen Art. 48 Abs. 2 CLP-Verordnung und damit zugleich gegen eine Marktverhaltensregel i.S.v. § 3a UWG verstoßen. Nach 48 Abs. 2 CLP-Verordnung muss jegliche Werbung, die es einem privaten Endverbraucher ermöglicht, ohne vorherige Ansicht des Kennzeichnungsetiketts einen Kaufvertrag abzuschließen, für als gefährlich eingestufte Gemische die auf dem Kennzeichnungsetikett angegebene(n) Gefahrenhinweise aufweisen. Dem genügte der bloße Hinweis im Katalog der Beklagten und der Verweis auf die Internetseite der Beklagten nicht. So folgt nach der Ansicht des Gerichts aus Erwägungsgrund Nr. 67 CLP-Verordnung ausdrücklich, dass Art. 48 CLP-Verordnung Verbraucher vor den Gefahren als gefährlich eingestufter Gemische schützen soll, wenn entsprechende Gemische gekauft werden können, ohne vorher das Kennzeichnungsetikett und die dort enthaltenen Gefahrenhinweise zur Kenntnis zu nehmen. Damit müssen in Katalogen, die einen Kauf von als gefährlich eingestuften Gemischen ermöglichen, die auf den Etiketten der Produkte enthaltenen Gefahrenhinweise abgebildet werden.
2. Pflicht zur Angabe von Gefahrenhinweisen für Biozidprodukte auf der Produktübersichtwebsite
OLG Zweibrücken Urt. v. 31.03.2022 4 U 201/21
Der Beklagte bot in seinem Online-Shop Desinfektionsmittel an. Den Warnhinweis „Biozidprodukte vorsichtig verwenden. Vor Gebrauch stets Etikett und Produktinformation lesen“ wies der Beklagte nicht bereits auf der Produktübersichtsseite, sondern erst auf der jeweiligen Detailseite zu den einzelnen Produkten aus. Der Kunde konnte schon über die Übersichtsseite den Bestellvorgang auslösen, ohne zuvor auf die Produktdetailseiten zu gelangen. Der Kläger macht einen Unterlassungsanspruch geltend, wonach der Beklagten untersagt werden sollte, im geschäftlichen Verkehr für Biozidprodukte wie bisher zu werben. Der Kläger unterlag erstinstanzlich, weil es sich bei der beanstandeten Produktübersichtsseite der Beklagten nicht um Werbung handele. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein.
Die Berufung hat Erfolg. Die Produktpräsentation der Biozid-Produkte im Online-Shop der Beklagten verstößt nach Ansicht des Berufungsgerichts gegen Art. 72 der Verordnung (EU) 582/2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (Biozid-VO) und damit gegen eine Marktverhaltensregel i.S.v. § 3a UWG. Nach Art. 72 Abs. 1 Biozid-VO muss jede Werbung für Biozidprodukte folgenden Hinweis enthalten: „Biozidprodukte vorsichtig verwenden. Vor Gebrauch stets Etikett und Produktinformationen lesen.“ Bereits bei der Warenpräsentation auf der Produktübersichtsseite der Beklagten handelt es sich um Werbung i.S.v. Art. 3 lit. y Biozid-VO. So erfasst der Begriff der Werbung i.S.d. Biozid-VO jedes Mittel zur Förderung des Verkaufs oder der Verwendung von Biozidprodukten durch gedruckte, elektronische oder andere Medien. Diese Voraussetzungen lagen für die Produktübersichtsseite vor, weil dort alle für einen potenziellen Kaufinteressenten wesentlichen Angaben für den Kauf der Biozidprodukte vorhanden waren. Für den Kaufinteressenten bestand nach der Gestaltung der Produktübersichtsseite also keine Veranlassung, auf die jeweiligen Detailseiten zu wechseln. Der Gefahrenhinweis nach Art. 71 Abs. 1 Biozid-VO muss im Internet außerdem jedenfalls dann bereits auf der Produktübersichtsseite erfolgen, wenn der Kunde den Bestellvorgang schon dort auslösen kann, ohne vor Kaufvertragsabschluss auf die den Hinweis enthaltende Produktdetailseiten zu gelangen.
Hinweis: Produktübersichtsseiten im Internet ermöglichen den Kaufinteressenten häufig, den Kaufvorgang auszulösen und abzuschließen, ohne dass zuvor auf die jeweilige Detailseite, welche ggf. etwaig erforderliche Gefahrenhinweise enthält, weitergeleitet wird. Nach den Ausführungen des OLG Zweibrücken ist es in diesen Fällen erforderlich, dass bereits die Produktübersichtsseite die nach der Biozid-VO geforderten Gefahrenhinweise enthält. Die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Argumente und Erwägungen können dabei ggf. auch auf andere Produktrechtsakte übertragen werden, die eine Mitteilung von Gefahrenhinweisen oder anderen Informationen vor Kaufvertragsabschluss vorschreiben, siehe z. B.: § 17 Abs. 1 Satz 3 ElektroG für Elektronikgeräte oder § 11 Abs. 4 2. ProdSV für Spielzeug.
3. Wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch gegen das Inverkehrbringen eines Produkts zur Schädlingsbekämpfung mit dem Wirkstoff Kieselgur I
OLG Köln, Urt. v. 20.05.2022 – I-6 U 74/19, 6 U 74/19
Die Parteien streiten über die Frage, ob die Beklagte berechtigt ist, ein Produkt zur Schädlingsbekämpfung, welches Kieselgur als einzigen Wirkstoff enthält, in den Verkehr zu bringen, ohne den Wirkstoff unmittelbar oder mittelbar von der Klägerin zu beziehen. Zum Sortiment der Klägerin gehören u.a. Produkte, welche den Wirkstoff Kieselgur enthalten und von der Klägerin unter einem eigenen Handelsnamen in Verkehr gebracht werden. Die Klägerin hat eine Zulassung des Wirkstoffs Kieselgur gemäß der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (Biozid-VO) erwirkt und ist - derzeit als einziger Hersteller dieses Wirkstoffs - in der Liste gemäß Art. 95 Biozid-VO eingetragen worden. Die Beklagte vertreibt u.a. ein Produkt mit einem anderen Handelsnamen zur Bekämpfung von Geflügelmilben. Dieses Produkt enthält als einzigen Wirkstoff 98% Kieselgur. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Beklagte ihr Produkt nicht anbieten dürfe, solange sie den Wirkstoff Kieselgur nicht unmittelbar oder mittelbar von der Klägerin bezieht oder nicht selbst als Hersteller oder Importeur des Wirkstoffs Kieselgur in die Liste gemäß Art. 95 Abs. 2 der Biozid-VO eingetragen ist. Die Beklagte ist der Ansicht, dass ihr Produkt kein Biozidprodukt darstelle, weil es lediglich durch physikalische Einwirkungen Schadorganismen zerstöre. Die Klage ist von dem Landgericht Köln abgewiesen worden. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.
Die Berufung der erstinstanzlich unterlegenen Klägerin hat weitestgehend Erfolg. Dabei hat das OLG Köln zunächst ausgeführt, dass das Produkt der Beklagten entgegen der Auffassung des LG Köln als Biozidprodukt einzustufen ist und in den Anwendungsbereich der Biozid-VO fällt. Schließlich hat die EU-Kommission mit einer Durchführungsverordnung bereits das repräsentative Biozidprodukt der Klägerin mit dem Wirkstoff Kieselgur als Biozidprodukt eingestuft. Das von der Beklagten vertriebene Produkt entspricht in seiner Zusammensetzung dem repräsentativen Biozidprodukt der Klägerin und enthält unstreitig als einzigen Wirkstoff Kieselgur. Hiernach bleibt nach der Ansicht des Gerichts im Hinblick auf das Produkt der Beklagten kein Raum für eine von der Einstufung der EU-Kommission abweichende Bewertung. Unstreitig ist außerdem, dass die Klägerin für den Wikrstoff Kieselgur als einzige Lieferantin in der Liste nach Art. 95 Abs. 2 Biozid-VO aufgeführt ist und die Beklagte den Stoff nicht, auch nicht mittelbar, über die Klägerin bezog. Dies wäre aber wegen Art. 95 Abs. 3 Biozid-VO erforderlich. Denn nach Art. 95 Abs. 3 Biozid-VO darf ein Biozidprodukt, das aus einem in der Liste gemäß Art. 95 Abs. 1 Biozid-VO aufgeführten Wirkstoff besteht, nur dann auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn der jeweilige Hersteller oder Importeur des Wirkstoffes in der Liste gemäß Art. 95 Abs. 2 Biozid-VO aufgeführt ist. Hier ist unstreitig nur die Klägerin in der Liste gemäß Art. 95 Abs. 2 Biozid-VO geführt und kommt somit derzeit als einzige Lieferantin für den Wirkstoff Kieselgur bzw. Kieselgur enthaltende Biozidprodukte in Betracht. Demnach darf die Beklagte ihr Produkt nur dann in den Verkehr bringen, sofern sie selbst in die Liste gemäß Art. 93 Abs. 2 Biozid-VO eingetragen wird oder den Wirkstoff Kieselgur zumindest mittelbar von der Klägerin bezieht.
4. Wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsantrag gegen die Werbung einer Drogeriemarktkette für Desinfektionsmittel
OLG Karlsruhe, Urt. v. 08.06.2022 - 6 U 95/21
Die Klägerin wendet sich gegen die Bewerbung und Kennzeichnung von Biozidprodukten durch die Beklagte. Die Beklagte bewarb das streitgegenständliche Mittel mit „Ökologisches Universal-Breitband Desinfektionsmittel“ und „Hautfreundlich • Bio • ohne Alkohol“. Auch das Produktetikett wies entsprechende Angaben auf. Die Klägerin macht einen Unterlassungsanspruch geltend und führt aus, dass die Kennzeichnung und Werbung der Biozidprodukte unlauter sei, weil die Beklagte damit Marktverhaltensregelungen in Art. 72 Abs. 3 und Art. 69 Abs. 2 S. 2 der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (Biozid-VO) zuwiderhandele. Erstinstanzlich wurde die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.
Die Berufung hat teilweise Erfolg. Bei den Art. 69 Abs. 2 und Art. 72 Abs. 3 Biozid-VO handelt es sich um Marktverhaltensregeln i.S.d. § 3a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Denn diese Vorschriften sind zumindest auch dazu bestimmt, im Interesse der Verbraucher das Marktverhalten zu regeln, indem sie die Kennzeichnung und Werbung für Biozidprodukte regulieren. Die Kennzeichnung der Produktetiketten mit den verfahrensgegenständlichen Aussagen ist der Beklagten aber entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung nicht vorwerfbar. Denn die Beklagte ist insoweit nicht Normadressatin der hier in Rede stehenden Bestimmung in Art. 69 Abs. 2 Biozid-VO. Diese Vorschrift untersagt die Kennzeichnung der Produktetiketten mit irreführenden Aussagen hinsichtlich der Wirksamkeit und Risiken des Biozidprodukts. Normadressat dieser Vorschrift sind aber nicht bloße Händler von Biozidprodukten, sondern die jeweiligen Zulassungsinhaber, die wiederum verantwortlich für eine ordnungsgemäße Kennzeichnung und Etikettierung von Biozidprodukten sind. Im Ergebnis zutreffend bewertet das Berufungsgericht jedoch, dass die Beklagte mit den angegriffenen Verwendungen der Bezeichnungen „Ökologisches Universal-Breitband Desinfektionsmittel“ sowie „Bio“ für ein Desinfektionsmittel jeweils Art. 72 Abs. 3 Biozid-VO zuwidergehandelt hat. Nach dieser Vorschrift darf ein Biozidprodukt auf keinen Fall mit den Angaben „Biozidprodukt mit niedrigem Risikopotenzial“, „ungiftig“, „unschädlich“, „natürlich“, „umweltfreundlich“, „tierfreundlich“ oder mit „ähnlichen Hinweise“ beworben werden. Die angegriffenen Aussagen sind nach der Ansicht des OLG Karlsruhe als „ähnliche Hinweise“ i.S.v. Art. 72 Abs. 3 Biozid-VO einzustufen, weil sie in ihrem Unwerturteil den in Art. 72 Abs. 3 Biozid-VO ausdrücklich genannten Begriffen ähneln, indem sie die Eigenschaften des Biozids hinsichtlich der Produktrisiken verharmlosen. Hiernach stellt sich die streitgegenständliche Bewerbung der Biozidprodukte als wettbewerbswidrig dar.
5. Anforderungen an die Platzierung einer CE-Kennzeichnung
LG Cottbus, Urt. v. 15.06.2022 - 11 O 5/20
Die Beklagte bot einen elektronisch verstellbaren Sitz zum Verkauf an. Es fand sich nur auf dem mitgelieferten Netzteil eine CE-Kennzeichnung, während auf dem Produkt selbst keine Kennzeichnung angebracht war. Der Kläger machte aus diesem Grund einen Unterlassungsanspruch geltend.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Unterlassung des Inverkehrbringens des elektrisch verstellbaren Sessels solange dieser nicht die erforderliche CE-Kennzeichnung aufweist. Das Verhalten der Beklagten stellt aufgrund der Verletzung einer Marktverhaltensregel eine unlautere Handlung dar. Bei dem streitgegenständlichen Sessel handelt es sich um eine Maschine i.S.d. EU-Maschinenrichtlinie (RL 2006/42/EG) (MRL). Hiernach muss der Sessel selbst die erforderliche CE-Kennzeichnung aufweisen. Es ist nach Auffassung des Gerichts nicht ausreichend, wenn sich CE-Kennzeichnung nur auf dem mit geliefertem Netzteil und nicht an dem Sessel selbst befindet. Ohnehin war die CE-Kennzeichnung auf dem Typenschild des beigefügten Netzteils mit der Bezeichnung „AC/DC Swotching Power Supply“ angebracht. Damit bezog sich die CE-Kennzeichnung nicht auf den Sessel, sondern auf das mitgelieferte Netzteil. Durch die Bereitstellung der Sessel ohne CE-Kennzeichnung hat die Beklagte gegen § 5 Abs. 1 der 9. Produktsicherheitsverordnung (9. ProdSV), welcher die MRL in nationales Recht umsetzt, verstoßen.
6. Keine Pflicht zur Angabe der Energieeffizienzklasse in einer Werbeanzeige
OLG Hamm, Urt. v. 5.9.2022 – 4 U 71/21
Der Kläger wendet sich im Wege eines Unterlassungsanspruchs gegen eine von der Beklagten in einer Zeitung veröffentlichte Werbeanzeige für eine Haushaltswaschmaschine und beanstandet das Fehlen von Angaben zur Energieeffizienzklasse und zum Spektrum der Effizienzklassen in dieser Anzeige.
Die Klage hat keinen Erfolg, da dem Kläger ein Unterlassungsanspruch nicht zusteht. Bei den fehlenden Informationen handelt es sich nicht um „wesentliche Informationen“ i.S.v. § 5a Abs. 2 S. 1 a.F., § 5a Abs. 1 n.F. UWG. Eine Verpflichtung zur Angabe der Energieeffizienzklasse und zum Spektrum der Effizienzklassen in der Werbeanzeige ergibt sich nach der Auffassung des Gerichts zunächst nicht aus Art. 6 UAbs. 1 lit. a) der Rahmenverordnung (EU) 2017/1369 zur Energieverbrauchskennzeichnung. Denn nach der Auslegung des Gerichts ist diese Vorschrift dahingehend auszulegen, dass die Verpflichtung von Lieferanten und Händlern von energieverbrauchsrelevanten Produkten auf das Spektrum der Energieeffizienzklassen hinzuweisen, einer Konkretisierung durch einen delegierten Rechtsakt bedarf. Eine Kennzeichnung des Spektrums der Energieeffizienzklassen ist demnach nur „gemäß den einschlägigen delegierten Rechtsakten“ vorzunehmen. Die für den Zeitpunkt der Schaltung der streitgegenständlichen Anzeige geltende delegierte Verordnung (EU) 1061/2010 sieht eine Kennzeichnungspflicht im Hinblick auf Werbeanzeigen nur dann vor, sofern diese „energie- oder preisbezogenen Informationen“ enthalten. Dies war für die streitgegenständliche Anzeige aber nicht der Fall. Dieser Umstand schließt nach der Auffassung des Gerichts auch aus, zusätzliche und über die Anforderungen der einschlägigen EU-Verordnungen hinausgehende Informationspflichten unmittelbar aus wettbewerbsrechtlichen Vorschriften herzuleiten.
7. Pflicht zur Angabe der Energieeffizienzklasse in einer Werbeanzeige
OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.07.2022 - 2 U 9/22
Der Beklagte bewarb im Rahmen der Werbebeilage hochwertige (Marken-) Küchengeräte, bei welchen in der Werbung nicht auf das Spektrum der auf dem Etikett verfügbaren Effizienzklassen hingewiesen worden ist. Der Kläger erhob Klage auf Unterlassung einer Bewerbung der Küchengeräte ohne Hinweis auf die verfügbaren Effizienzklassen. Gegen das erstinstanzlich stattgebende Urteil wendet sich die Beklagte mit der hier entschiedenen Berufung.
Die Berufung hat keinen Erfolg, weil die Beklagte in ihrer Bewerbung der Küchengräte zur Angabe des Spektrums der verfügbaren Effizienzklassen verpflichtet war. Die Verpflichtung folgt unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 lit. a der Rahmenverordnung zur Energieverbrauchskennzeichnung (EU) 2017/1369 und nicht erst aus dem einschlägigen delegierten Rechtsakt. Nach Art. 6 Abs. 1 lit. a Verordung (EU) Nr. 2017/1369 müssen Lieferanten und Händler in visuell wahrnehmbarer Werbung oder im technischen Werbematerial für ein bestimmtes Modell auf die Energieeffizienzklasse des Produkts und das Spektrum der auf dem Etikett verfügbaren Effizienzklassen gemäß dem einschlägigen delegierten Rechtsakt hinweisen. Nach Auffassung des Gerichts war es unerheblich, dass die zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Werbung geltenden delegierten Verordnungen VO (EU) 1059/2010 (für Haushaltsgeschirrspüler), die VO (EU) 1060/2010 (für Haushaltskühlgeräte) sowie die VO (EU) 65/2014 (für Haushaltsbacköfen und – Dunstabzugshauben) keine Festlegungen zur Angabe des Spektrums der verfügbaren Energieeffizienzklassen trafen. Diese betreffen schließlich nur die Frage, „wie" das Spektrum im Werbematerial anzugeben ist, nicht jedoch ob überhaupt eine Angabe erforderlich ist. Enthalten die einschlägigen delegierten Verordnungen die nötigen Angaben zur Darstellung des Spektrums nicht, führt dies nur insoweit zu einer Unklarheit, als dann nicht detailliert geregelt ist, wie die Angaben zu erfolgen haben. Es verbleibt dabei aber nach den Ausführungen des Berufungsgerichts bei einer Verpflichtung zur Angabe der Effizienzklassen in der Werbung, welche aus Art. 6 Abs. 1 lit. a VO (EU) 2017/1369 folgt. Die Beklagte hätte daher wesentliche Informationen i.S.v. § 5a Abs. 2 S. 1 UWG mitteilen müssen und zugleich gegen eine Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG verstoßen.
Hinweis: Mit dieser Entscheidung weicht das OLG Braunschweig hinsichtlich der Frage, ob eine Pflicht zur Angabe der Effizienzklassen in einer Werbeanzeige direkt aus Art. 6 Abs. 1 lit. a VO (EU) 2017/1369 folgt, von dem oben zusammengefassten Urteil des OLG Hamm ab. Wegen des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 lit. a VO (EU) 2017/1369 („gemäß dem einschlägigen delegierten Rechtsakt“) sprechen aber nach wie vor gute Argumente dafür, dass sich eine Informationspflicht nicht direkt aus der VO (EU) 2017/1369, sondern allenfalls aus den jeweils anwendbaren delegierten Rechtsakten ergibt. Die insoweit bestehende Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Auslegung der VO (EU) 2017/1369 kann durch eine Angabe der Effizienzklasse beseitigt werden, da eine ggf. überobligatorische Angabe nicht verboten ist.
8. Zu der Reichweite der Händlerprüfpflichten für Medizinprodukte
OLG Celle Urt. 19.01.2023 13 U 79/21
Die Beklagte ist die rechtlich selbständige deutsche Vertriebsgesellschaft eines italienischen Unternehmens, das Hersteller von sog. ölfreien Trockenluftkompressoren ist. Im November 2020 bestellte die Klägerin bei der Beklagten im Wege eines Testkaufs einen Kompressor des italienischen Herstellers. Der Kompressor trug eine einfache CE-Kennzeichnung ohne Angabe der vierstelligen Kennnummer einer Benannten Stelle. Die zugehörige EU-Konformitätserklärung bezieht sich auf die Richtlinie 2006/42/EG (Maschinenrichtlinie) und nicht auf die VO (EU) 2017/745 (Medizinprodukte-VO) bzw. die davor geltende Medizinprodukte-Richtlinie. Die Klägerin machte einen Unterlassungsanspruch wegen des Fehlens der ihrer Auffassung nach erforderlichen medizinprodukterechtlichen CE-Kennzeichnung nebst vierstelliger Kennnummer einer Benannten Stelle sowie des Fehlens einer hinreichenden EU-Konformitätserklärung ab und forderte sie zur Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung auf. Die Klägerin ist der Ansicht, dass es sich bei dem Kompressor um ein Medizinprodukt handelt, welches der Risikoklasse IIa gemäß Anhang IX der Medizinprodukte-Richtlinie zuzuordnen ist. Daher müsse die CE-Kennzeichnung des Kompressors die vierstellige Nummer der Benannten Stelle/Konformitätsbewertungsstelle aufweisen. Gegen das erstinstanzlich abgewiesene Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch darauf zu, Kompressoren, die nach dem Inhalt ihrer Gebrauchsanweisung „zur Erzeugung von Druckluft für die zahnmedizinische Behandlung“ bestimmt sind, nicht bereitzustellen, wenn eine medizinprodukterechtliche Konformitätserklärung für die CE-Kennzeichnung fehlt. Bei den ölfreien Trockenluftkompressoren des Herstellers C. handelte es sich um Zubehör zu Medizinprodukten im Sinne des zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung geltenden Gesetzes über Medizinprodukte (MPG), welches die Richtlinie 93/42/EWG (Medizinprodukten-Richtlinie) umgesetzt hatte. Zubehör für Medizinprodukte sind Gegenstände, die selbst keine Medizinprodukte sind, aber vom Hersteller dazu bestimmt sind, mit einem Medizinprodukt verwendet zu werden, § 3 Nr. 9 MPG. Nach der Gebrauchsanweisung für den streitgegenständlichen Kompressor, waren diese in erster Linie dazu bestimmt, mit einem Medizinprodukt, nämlich einer zahnmedizinischen Behandlungseinheit, angewendet zu werden. Der CE-Kennzeichnung der Kompressoren hätte daher eine medizinprodukterechtliche Konformitätserklärung zugrunde liegen müssen, was nicht der Fall war. Durch die Bereitstellung der Kompressoren ohne medizinproduktrechtliche Konformitätserklärung hat die Beklagte gegen ihre gesetzlichen Händlerpflichten nach § 6 Abs. 1 S. 1 MPG und damit gegen einer Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG verstoßen. Im Übrigen liegt auch eine Wiederholungsgefahr vor, weil das abgemahnte Verhalten der Beklagten auch gemäß des nunmehr geltenden Art. 14 Abs. 1 der Medizinprodukten-VO rechtswidrig ist. Hiernach müssen bei der Bereitstellung von Produkten, die dem Anwendungsbereich der Verordnung unterfallen, die geltenden medizinproduktrechtlichen Anforderungen mit der gebührenden Sorgfalt beachten. Der Begriff der gebührenden Sorgfalt bezieht sich auf die Anstrengungen, die eine mit normaler Umsicht handelnde oder vernünftige Person unternimmt, um unter Berücksichtigung der Umstände Schaden von anderen abzuwenden. Beim Händler gehört dazu das Wissen, welche Produkte mit der CE-Kennzeichnung zu versehen sind, welche Unterlagen (z. B. EU-Konformitätserklärung) das Produkt begleiten müssen, welche sprachlichen Anforderungen an die Etikettierung, Gebrauchsanweisungen bzw. andere Begleitunterlagen bestehen und welche Umstände eindeutig für die Nichtkonformität des Produkts sprechen. Die Beklagte als Händlerin hätte anhand der Gebrauchsanweisung prüfen müssen, ob die Kompressoren als Medizinprodukte einzustufen sind. Hiernach hätte die Beklagte bei Anwendung der gebührenden Sorgfalt wissen müssen, dass es sich bei den Kompressoren um Produkte handelt, die einer medizinprodukterechtlichen Konformitätserklärung bedürfen, da sich die Zweckbestimmung als Zubehör für Medizinprodukte eindeutig aus der Gebrauchsanweisung ergibt. Im Hinblick auf die Bereitstellung der Kompressoren ohne Kennzeichnung einer etwaig erforderlichen vierstelligen Kennnummer einer Benannten Stelle hat die Beklagte jedoch nicht gegen eine sie treffende Marktverhaltensregelung verstoßen. Denn insoweit oblagen der Beklagten als Händlerin keine Prüfpflichten zur Überprüfung der medizinproduktenrechtlichen Risikoklassenzuweisung. So gehört eine inhaltliche Bewertung einer vom Hersteller beigebrachten EU-Konformitätserklärung einschließlich der Klassifizierung solcher Kompressoren in eine medizinproduktrechtlichen Risikoklassen nicht zu den von Händlern vorzunehmenden formellen Prüfpflichten. Daher war der klägerische Unterlassungsantrag insoweit entsprechend der erstinstanzlichen Entscheidung des Landgerichts abzuweisen.
Hinweis: Die Entscheidung des Gerichts zeigt, dass sich der konkrete Inhalt der Händler-Prüfplichten oftmals nur schwer bestimmen lässt. Vor allem die Trennung zwischen einer formellen Prüfung und einer inhaltlichen Prüfung ist mit Unsicherheiten behaftet. Schließlich hat das OLG Celle ausgeführt, dass sich Händler zur Erfüllung ihrer Prüfpflicht nach Art. 14 Abs. 1 Medizinprodukten-VO nicht nur auf die Konformitätserklärung des Herstellers verlassen dürfen, sondern prüfen müssen, ob sich eine Eigenschaft als Medizinprodukt ggf. aus der Gebrauchsanleitung ergibt. Dieser Prüfungsmaßstab führt bei Medizinprodukten zu einer gewissen inhaltlichen Prüfpflicht der Händler über die vom Hersteller vorgenommene Produkteinstufung.
IV. Gewährleistung und Produkthaftung
1. Kein Werkmangel wegen fehlender CE-Kennzeichnung
LG Flensburg, Urt. v. 11.03.2022 - 2 O 244/19
Der Kläger verlangt von den beklagten Architekten Schadensersatz wegen Undichtigkeiten an Fenstern und Türen, die er mit einer mangelhaften Architektenleistung begründet. Der Kläger behauptet, dass die betroffenen Fenster und Türen keine CE-Kennzeichnung aufwiesen und meint, dass allein dieser Umstand einen Sachmangel begründe.
Die Klage hat keinen Erfolg. Das Gericht stellt klar, dass eine lediglich fehlende Kennzeichnung keinen Werkmangel begründe und verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf ein Urteil des OLG Oldenburg aus dem Jahr 2019. Die CE-Kennzeichnung diene leidglich der Erleichterung des Handels nach der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (EU-Bauprodukteverordnung) und treffe daher keine Aussage über die Qualität der betroffenen Produkte.
Hinweis: Diese Entscheidung knüpft insbesondere an das Urteil des OLG Oldenburg (Urt. v. 4. September 2018 – 2 U 58/18) an. Zwar stellt bereits das OLG Oldenburg die Bedeutung der CE-Kennzeichnung nach der EU-BauPVO richtig dar, übersieht dabei aber die weitergehenden bauordnungsrechtlichen Implikationen einer fehlenden CE-Kennzeichnung. Die Musterbauordnung (MBO) sieht in den §§ 79, 80 MBO bauordnungsrechtliche Maßnahmen, wie die Einstellung der Arbeiten oder gar die Beseitigung von Anlagen vor, wenn diese im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet wurden. § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 MBO führt dabei ausdrücklich den Fall auf, dass ein Bauprodukt entgegen den Vorschriften der EU-BauPVO nicht mit einer CE-Kennzeichnung versehen ist. Die latente Gefahr bauordnungsrechtlicher Maßnahmen kann dabei die Funktionsfähigkeit des Werkes durchaus beeinträchtigen und u.U. einen Mangel begründen. In diese Richtung hatte auch das LG Mönchengladbach bereits mit einem Urteil aus dem Jahr 2015 entschieden (Urt. v. 17. Juni 2015 – 4 S 141/14).
2. Unionsrechtliche Produktanforderungen als Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB
EuGH, Urt. v. 21.03.2023 – C-100/21
Die EuGH hatte die Frage zu entscheiden, ob eine nach unionsrechtlichen Vorschriften unzulässige Abschalteinrichtung für Käufer des betroffenen Fahrzeugs einen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB auslösen kann. Der Käufer erwarb bei einem Gebrauchtwagenhändler ein Gebrauchtfahrzeug der Marke Mercedes-Benz. Dieses Fahrzeug ist mit einer Motorsteuerungssoftware ausgerüstet, die die Abgasrückführung verringert, wenn die Außentemperaturen unter einer gewissen Schwelle liegen. Der Käufer erhob gegen den Fahrzeughersteller Klage auf Ersatz des Schadens, den ihm der Fahrzeughersteller dadurch verursacht habe, dass sie das in Rede stehende Fahrzeug mit einer nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtungen ausgerüstet habe. Ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB setzt jedoch den Verstoß gegen ein den Schutz eines anderen bezweckenden Gesetzes voraus („Schutzgesetz“), was nach der Rechtsprechung des BGH bedeute, dass dieses Gesetz dazu dient, einen Einzelnen oder einzelnen Personenkreis gegen die Rechtsgutsverletzungen zu schützen. Verstöße gegen Gesetze und Vorschriften, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen, können demnach keinen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB auslösen. Daher hat das entscheidende Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EU) 715/2007 auf den Schutz der Interessen eines einzelnen Erwerbers eines nicht unionsrechtskonformen Fahrzeugs abzielt, insbesondere wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist.
In seinem Urteil hat der EuGH ausgeführt, dass 5 Abs. 2 Verordnung (EU) 715/2007 neben dem allgemeinen Umweltschutz auch die Interessen des Erwerbers eines Fahrzeugs schützen soll. Gemäß Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EU) 715/2007 ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, grundsätzlich unzulässig. Zur Beantwortung der Vorlagenfrage ist die Verordnung (EU) 715/2007 in den Kontext zu setzen, in den sie sich einfügt. Es ist also nicht nur der Regelungsgehalt des 5 Abs. 2 Verordnung EU) 715/2007, sondern auch der Regelungsgehalt der unionsrechtlichen Vorschriften zu berücksichtigen, die für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen innerhalb der Union gelten. Gemäß Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2007/46/EG (Rahmenrichtlinie) sind die Fahrzeug-Hersteller verpflichtet, dem individuellen Käufer eines Fahrzeugs eine Übereinstimmungsbescheinigung auszuhändigen. Damit erklären die Hersteller gegenüber dem jeweiligen Käufer, dass das jeweilige Fahrzeug in Übereinstimmung mit der EG-Typgenehmigung hergestellt worden ist und den unionsrechtlichen Vorschriften entspricht. Unter Berücksichtigung der Übereinstimmungsbescheinigungen können Käufer daher erwarten, dass das jeweilige Fahrzeug den Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 Verordnung EU) 715/2007 entspricht. Diese Vorschrift schützt damit i.V.m. Art 18 Abs. 1 Rahmenrichtlinie den Käufer vor dem Erwerb von nichtkonformen Fahrzeugen.
Hinweis: Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass das Landgericht Ravensburg die produktrechtliche Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EU) 715/2007 als Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB einstuft. Im Übrigen bleibt abzuwarten, ob die Erwägungen des EuGH zu Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EU) 715/2007 auch auf andere produktrechtliche Vorschriften übertragen werden.
3. Komfortstandards in technischen Normen keine allgemein anerkannten Regeln der Technik
OLG Düsseldorf, Urt. v. 9. Februar 2023 – 5 U 227/21
Das OLG Düsseldorf hat sich im Rahmen einer baurechtlichen Streitigkeit mit der Vermutungswirkung technischer Normen als allgemein anerkannte Regeln der Technik beschäftigt. Die Klägerin, ein Bauunternehmen, nimmt die beklagte Ingenieursgesellschaft, die u.a. mit der TGA-Planung beauftragt war, auf Schadensersatz im Zusammenhang mit den werkvertraglichen Gewährleistungsrechten in Anspruch. Die Klägerin macht einen Werkmangel geltend, weil die Beklagte im Rahmen der Planung nicht die nach der DIN 18015-2 erforderliche Steckdosenzahl vorgesehen habe. Da es sich bei der DIN 18015-2 um eine allgemein anerkannte Regel der Technik handele, sei das Werk mangelhaft. Die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik sei im Rahmen des Werkvertrages – soweit nicht ausdrücklich anders vereinbart – stets stillschweigend geschuldet.
Das OLG Düsseldorf verneint jedoch die Vermutung, dass es sich bei der DIN 18015-2 um eine allgemein anerkannte Regel der Technik handelt. Als Begründung führt es an, dass es sich bei der in der DIN 18015-2 genannten Mindestzahl an Steckdosen lediglich um Komfortstandards handele. Ob für eine technische Norm vermutet werden könne, dass es sich um allgemein anerkannte Regeln der Technik handelt, müsse davon abhängig gemacht werden, ob die technische Norm sicherheitstechnische Festlegungen enthält oder lediglich Komfortstandards bzw. Ausstattungsniveaus regelt.
Anmerkung: Grundsätzlich wurde für technische Normen anerkannter Normungsorganisationen, wie beispielsweise für DIN-Normen, nach ständiger Rechtsprechung widerleglich vermutet, dass es sich bei ihnen um allgemein anerkannte Regeln der Technik handelt. Diese Vermutungswirkung stellt das OLG Düsseldorf vorliegend nunmehr für Komfortstandards in Frage. Die beschriebene Vermutungswirkung wird in der aktuellen politischen Diskussion vor dem Hintergrund steigender Baupreise – für die auch die Normung verantwortlich gemacht wird – immer wieder hinterfragt.
V. Akkreditierung
Parteilichkeit wegen Beratung – Kunden sind alle potenziellen Kunden einer Zertifizierungsstel-le
VG Berlin, Beschl. v. 5.12.2022 – 4 L 278/2022
Die Antragstellerin, eine Zertifizierungsstelle, wendet sich im Rahmen des Eilrechtsschutzes gegen die Aussetzung ihrer Akkreditierung für die Zertifizierung von Produkten, Prozessen und Dienstleistungen nach DIN EN ISO/IEC 17065. Die Deutsche Akkreditierungsstelle (DAkkS) hatte die Akkreditierung aufgrund einer als kritisch eingestuften Abweichung ausgesetzt. Die Abweichung sah die DAkkS darin, dass der Zertifizierungsstellenleiter und Geschäftsführer der Antragstellerin sowie die stellvertretene Zertifizierungstellenleiterin in diesen Funktionen Konformitätsbewertungen nach DIN EN ISO/IEC 17065 für ihre Kunden vornehmen. Der Zertifizierungsstellenleiter und seine Stellvertreterin boten jedoch im Rahmen einer jeweils selbstständigen Tätigkeit zugleich Beratungsleistungen in Form von Coachings, internen Audits und ähnlichen Leistungen an, die sich mit dem Tätigkeitsbereich der Antragstellerin überschnitten. Diese Konstellation verstoße gegen die normativen Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Antragstellerin stellte sich auf den Standpunkt, dass keine selbstständige Beratung von Kunden vorgenommen werde, bei denen es sich um Kunden der Zertifizierungsstelle handele, da dies im Rahmen der Risikominimierungsmaßnahmen ausgeschlossen werde. Eine Gefährdung der Unparteilichkeit trete deshalb nicht ein.
Die Antragstellerin hat mit ihrem Antrag keinen Erfolg. Das Gericht bestätigt – im Rahmen des Prüfungsmaßstabs des Eilrechtsschutzes – die Rechtmäßigkeit der Aussetzung der Akkreditierung. Das Gericht legt dabei den Begriff des Kunden im Sinne der DIN EN ISO/IEC 17065 aus. Nach verständiger Würdigung fielen darunter nicht nur die aktuellen die Kunden der Zertifizierungsstelle, sondern auch alle potenziellen Kunden der Zertifizierungsstelle. Diese Auslegung gebiete der Sinn und Zweck der Norm, welche das Vertrauen in das Zertifizierungswesen sicherstellen solle. Der Wissensvorsprung, der durch eine Beratung erlangt werde, könne die Unparteilichkeit im Zertifizierungsverfahren beeinträchtigen. Es ergebe sich auch nichts anderes aus der sog. Cooling-Off Periode, wonach in die Beratung einbezogenes Personal für eine bestimmte Zeit keine Konformitätsbewertung durchführen dürfe. Dies bestätige vielmehr, dass die Beratung als Gefahr für die Unparteilichkeit gesehen werde.