von

Das „Porr“-Urteil des EuGH vom 17.11.2022 – C-238/21: Bodenmaterial, Nebenprodukt und Abfallende

Artikel als PDF herunterladen


Liebe Mandantinnen und Mandanten,
liebe Geschäftsfreunde,

am 17.11.2022 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) unter dem Aktenzeichen C-238/21 für die Praxis äußerst relevante Vorlagefragen zu den Begriffen des Abfalls, des Nebenprodukts und des Endes der Abfalleigenschaft beantwortet. Damit liegt jetzt die erste Entscheidung des EuGH zu diesen Definitionen in Bezug auf ausgehobenes Bodenmaterial vor.

Das Ausgangsverfahren zwischen der Porr Bau GmbH und der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung findet vor dem österreichischen Landesverwaltungsgericht Steiermark statt.

Die EuGH-Entscheidung beantwortet die Fragen, ob es Art. 6 Abs. 1 der europäischen Abfallrahmenrichtlinie 2008/98/EG (AbfRRL) entgegensteht, wenn nach einer nationalen Regelung

  1. das Abfallende nur dann eintritt, bis Abfälle oder Altstoffe oder die aus ihnen gewonnenen Stoffe unmittelbar als Substitution von Rohstoffen oder von aus Primärrohstoffen erzeugten Produkten verwendet werden oder sie zur Wiederverwendung vorbereitet wurden, und
  2. wenn nein: das Abfallende für Aushubmaterial frühestens durch die Substitution von Rohstoffen oder aus Primärrohstoffen erzeugten Produkten eintreten kann, und
  3. wenn nein: das Abfallende für Aushubmaterial dann nicht eintreten kann, wenn Formalkriterien, die keinen umweltrelevanten Einfluss auf die durchgeführte Maßnahme haben, nicht oder nicht vollständig eingehalten werden, obwohl das Aushubmaterial die für den vorgesehenen konkreten Verwendungszweck einzuhaltenden Grenzwerte (Qualitätsklasse) nachweislich unterschreitet.

Die Antworten des EuGH werden für den Umgang mit Bodenmaterial und anderen mineralischen Ersatzbaustoffen in Deutschland Bedeutung haben, weil sie rechtssicher die Möglichkeiten eröffnen, (1.) Bodenmaterial auch dann als Nicht-Abfall zu qualifizieren, wenn es jenseits der Baustelle verwendet werden soll/muss, und (2.) das Abfallende für Bodenmaterial und andere mineralische Ersatzbaustoffe zu bejahen, wenn sie güteüberwacht für eine bestimmte Verwendung hergestellt werden.

Wir wünschen Ihnen viele neue und nützliche Erkenntnisse beim Lesen.

Und: Bleiben Sie gesund!

1. Hintergrund

Die Porr Bau GmbH (im Folgenden: Porr Bau), die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist Teil der Porr AG, einem national und international tätigen österreichischen Baukonzern mit Sitz in Wien. Im Juli 2015 wandten sich mehrere Landwirte an die Porr Bau und baten darum, ihnen gegen Entgelt Bodenaushub zu liefern und diesen auf ihren Grundstücken zu verteilen. Das Aushubmaterial sollte der Bodenkultivierung, bzw. der Verbesserung der landwirtschaftlichen Ertragsflächen dienen. Daraufhin wählte die Porr Bau ein geeignetes Bauvorhaben aus und entnahm dort das streitbefangene Aushubmaterial. Bei diesem Aushub handelte es sich um unkontaminiertes Bodenmaterial der (in Österreich sog.) Qualitätsklasse A1, die nach dem anwendbaren österreichischen Recht die höchste Qualitätsklasse für Bodenaushub darstellt. Nach diesen nationalen Vorgaben ist derartig qualitatives Material für Geländeanpassungen geeignet und rechtlich zulässig. Das betreffende Bodenmaterial war Prüfverfahren unterzogen worden, sodass es unmittelbar verwendet werden konnte.

Die Porr Bau beantragte bei der zuständigen Behörde, der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung, die Feststellung, dass das Aushubmaterial nicht als Abfall anzusehen sei. Die Behörde lehnte dies ab und vertrat außerdem die Auffassung, dass der Boden, den sie als Abfall nach § 2 Abs. 1 des österreichischen Abfallwirtschaftsgesetzes ansah, noch nicht das Ende der Abfalleigenschaft erreicht habe. Dies sei insbesondere der Fall, weil bestimmte Formalkriterien nicht eingehalten worden seien.

2. Ausgehobenes Bodenmaterial als Nicht-Abfall und Nebenprodukt

Art. 5 Abs. 1 AbfRRL bestimmt, dass ein Stoff oder Gegenstand, der das Ergebnis eines Herstellungsverfahrens ist, dessen Hauptziel nicht die Herstellung dieses Stoffes oder Gegenstands ist, nur als Nebenprodukt und nicht als Abfall gilt, wenn a) sichergestellt ist, dass der Stoff weiter verwendet wird; b) der Stoff oder Gegenstand direkt ohne weitere Verarbeitung, die über die normalen industriellen Verfahren hinausgeht, verwendet werden kann; c) der Stoff oder Gegenstand als integraler Bestandteil eines Herstellungsprozesses erzeugt wird; und d) die weitere Verwendung rechtmäßig ist, d.h. der Stoff oder Gegenstand erfüllt alle einschlägigen Produkt-, Umwelt- und Gesundheitsschutzanforderungen für die jeweilige Verwendung und führt insgesamt nicht zu schädlichen Umwelt- oder Gesundheitsfolgen. Dabei unterfällt ein Stoff oder Gegenstand, der als Nebenprodukt zu charakterisieren ist, nicht den Regelungen der AbfRRL. Die Kategorien der Nebenprodukte und der des Abfalls schließen sich gegenseitig aus.

a) Keine Entledigung, wenn im Vorhinein Qualität bestimmt und weitere Verwendung organisiert

EuGH, Rn. 49: Wenn der Erzeuger schon vor dem Aushub die Qualität des Bodenmaterials bestimmt und eine dazu passende umweltgerechte und rechtmäßige Verwendung organisiert, ist das ausgehobene Bodenmaterial kein Abfall, weil es an einer Entledigung fehlt.

Im „Porr-Fall“ lag bereits vor dem Aushub eine konkrete Anfrage der örtlichen Landwirte in Bezug auf die Lieferung solchen Bodenmaterials vor. Nachdem die Porr Bau geeignete Bauvorhaben gefunden hatte, sagte sie den Landwirten zu, ihnen das Bodenmaterial zur Verfügung zu stellen. Dies war verbunden mit der Vereinbarung, dass die Porr Bau mit Hilfe dieses Materials Arbeiten zur Rekultivierung und Verbesserung von ordnungsgemäß bestimmten Böden und landwirtschaftlichen Flächen durchführen solle. Diese Umstände waren nach Ansicht des EuGH nicht geeignet, den Willen der Porr Bau zu belegen, sich des Bodenmaterials als Abfall zu entledigen (Rn. 49)

Daraus folgt: Wenn der Erzeuger eines Bodenmaterials aufgrund vorbereitender Maßnahmen schon vor Durchführung der Aushubarbeiten weiß, welche Qualität das von ihm auszuhebende Bodenmaterial haben wird (Baugrunduntersuchung, Vorerkundung etc.), und welcher zu dieser Qualität passenden (= umweltgerechten und rechtmäßigen) Verwendung er das Bodenmaterial hinreichend sicher zuführen wird (Lieferverträge etc.), dann liegt keine Entledigung des Bodenmaterials vor, so dass das Bodenmaterial nicht als Abfall einzustufen ist. Der Erzeuger vermeidet somit Abfall – so wie es der Abfallhierarchie gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. a) AbfRRL und § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KrWG entspricht.

b) Bodenmaterial als mögliches Nebenprodukt (Art. 5 Abs. 1 AbfRRL)

Aufgrund dessen war nach Auffassung des EuGH zu prüfen, ob das ausgehobene Bodenmaterial als Nebenprodukt i.S.d. Art. 5 Abs. 1 AbfRRL zu qualifizieren war (Rn. 50).

Der EuGH ist so zu verstehen, dass die Bautätigkeit, in deren Zuge das ausgehobene Bodenmaterial erzeugt wird, als Herstellungsverfahren im Sinne des Art. 5 Abs. 1 AbfRRL anzusehen ist.

Etwas ungewöhnlich – jedenfalls für die deutsche Praxis – erscheint möglicherweise der Gedanke, ausgehobenes Bodenmaterial überhaut als potentielles Nebenprodukt anzusehen. Denn ein Nebenprodukt ist, wie gesagt, nach der Eingangsvoraussetzung des Art. 5 Abs. 1 AbfRRL ein Stoff oder Gegenstand, der (neben dem Hauptprodukt) das Ergebnis eines Herstellungsverfahrens ist. In Bezug auf ausgehobenes Bodenmaterial kann also nur die Bautätigkeit, in deren Zuge das Bodenmaterial ausgehoben wird, das Herstellungsverfahren sein. Dem Urteil des EuGH ist insoweit keine ausdrückliche Begründung zu entnehmen, weil der EuGH sogleich die einzelnen Nebenprodukt-Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) bis Buchst. d) AbfRRL abprüft. In diesen Ausführungen bezeichnet der EuGH die den Bodenaushub erzeugende Bautätigkeit allerdings als „Verfahren der Bauausführung“ und als „wirtschaftlicher Tätigkeit, die zur Transformation von Gelände führt“ (Rn. 55). Man muss daraus wohl schließen, dass der EuGH die Bautätigkeit, die das ausgehobene Bodenmaterial erzeugt, als Herstellungsverfahren im Sinne des Art. 5 Abs. 1 AbfRRL ansieht.

c) Sichere weitere Verwendung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) AbfRRL)

Mit Blick auf die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) AbfRRL geforderte weitere Verwendung kam es nach Auffassung des EuGH auf die – letztlich vom österreichischen Gericht vorzunehmende – Prüfung an, ob sich die Landwirte gegenüber der Porr Bau verbindlich zur Abnahme des Bodenmaterials verpflichtet hatten, um es zur Rekultivierung und Verbesserung von Böden und landwirtschaftlichen Flächen zu verwenden, und ob das Bodenmaterial und die gelieferten Mengen tatsächlich zur Ausführung dieser Arbeiten bestimmt und strikt auf deren Erfordernisse begrenzt waren.

EuGH, Rn. 53: „Sollte das fragliche Material nicht sofort geliefert worden sein, so ist eine Lagerung von angemessener Dauer zum Zweck seiner vorübergehenden Verwahrung bis zur Ausführung der Arbeiten, für die das Material bestimmt ist, als zulässig zu erachten.“

Der EuGH führte in diesem Zusammenhang aus, dass eine Lagerung von einer angemessenen Dauer zum Zwecke der vorübergehenden Verwahrung bis zur Durchführung der vereinbarten Arbeiten, zulässig ist. Eine Lagerung widerspricht der Annahme, dass ein Nebenprodukt vorliegt, nicht. Was genau unter einer angemessenen Dauer zu verstehen ist, wird nicht konkretisiert. Jedoch verweist der EuGH auf sein Urteil vom 3.10.2013 – C‑113/12 – „Brady“, aus dem hervorgeht, dass die Lagerdauer nicht über das hinausgehen darf, was erforderlich ist, damit das betreffende Unternehmen in der Lage ist, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen.

d) Direkte Verwendung ohne weitere, über normales industrielles Verfahren hinausgehende Verarbeitung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) AbfRRL)

Mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) AbfRRL, wonach der Stoff oder Gegenstand direkt ohne weitere Verarbeitung, die über die normalen industriellen Verfahren hinausgeht, verwendet werden können muss, betonte der EuGH, dass das Bodenmaterial einer Qualitätskontrolle unterzogen worden und danach qualitativ als unkontaminiertes Material der höchsten Qualitätsklasse einzustufen war (Rn. 54). Es sei hingegen Aufgabe des österreichischen Gerichts festzustellen, dass vor der Weiterverwendung des Bodenmaterials eine über ein normales Verfahren hinausgehende Verarbeitung oder Behandlung nicht nötig war.

e) Integraler Bestandteil des Herstellungsprozesses (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) AbfRRL)

Um die Voraussetzung, dass die Erzeugung des ausgehobenen Bodenmaterials auch integraler Bestandteil des Herstellungsprozesses sein muss, machte der EuGH nicht viel Aufhebens: Wie gesagt, qualifizierte er die Bautätigkeit ohne besondere Begründung als Herstellungsprozess. Zur Begründung, dass die Erzeugung des Bodenaushubs ein integraler Bestandteil der Bautätigkeit sei, führte der EuGH aus, dass der Bodenaushub bei einem der ersten Schritte anfällt, die im Verfahren der Bauausführung als wirtschaftlicher Tätigkeit, die zur Transformation vom Gelände führt, üblicherweise unternommen werden (Rn. 55). Weil also Bodenaushub unweigerlich anfällt, wenn eine Baumaßnahme in den Boden eingreift, ist die Erzeugung ausgehobenen Bodenmaterials ein integraler Bestandteil der betreffenden Baumaßnahme.

f) Erfüllung von Produkt‑, Umwelt- und Gesundheitsschutz, keine schädlichen Umwelt- oder Gesundheitsfolgen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. d) AbfRRL)

EuGH, Rn. 58 f.: Die umwelt- und gesundheitsverträgliche Wiederverwendung von Bodenmaterial gemäß den einschlägigen Anforderungen trägt zur Abfallvermeidung, zur Ressourcenschonung und zur Kreislaufwirtschaft bei.

In Bezug auf die vierte Nebenprodukt-Voraussetzung verwies der EuGH darauf, dass für das Aushubmaterial vor seiner Wiederverwendung eine Qualitätsanalyse durchgeführt worden war und es danach in die höchste Qualitätsklasse für unkontaminiertes Aushubmaterial einzustufen war. Dafür gibt es eine Definition im österreichischen Recht, insbesondere im Bundes-Abfallwirtschaftsplan, der spezifische Anforderungen in Bezug auf die Verringerung der Menge der Abfälle, ihrer Schadstoffe und ihrer schädlichen Auswirkungen auf Umwelt und menschliche Gesundheit vorsieht; und der österreichische Bundes-Abfallwirtschaftsplan sieht außerdem vor, dass die Verwendung unkontaminierten Aushubmaterials der höchsten Qualitätsklasse für die Rekultivierung und Verbesserung von Böden geeignet und zulässig ist (Rn. 57). Der EuGH ergänzte insoweit, dass diese Wiederverwendung im Einklang mit den Zielen der AbfRRL stehe, weil die Nutzung von Bodenaushub als Baumaterial, sofern er strengen Qualitätsanforderungen genüge, einen erheblichen Vorteil für die Umwelt aufweise, weil so entsprechend Art. 11 Abs. 2 Buchst. b) AbfRRL ein Beitrag zur Verringerung von Abfällen, zum Schutz der natürlichen Ressourcen und zur Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft geleistet und die Abfallhierarchie beachtet werde (Rn. 58 f.).

3. Abfallende für ausgehobenes Bodenmaterial

Da der EuGH dem österreichischen Gericht die Letztentscheidung überließ, ob es sich bei dem betreffenden ausgehobenen Bodenmaterial um Abfall oder um Nebenprodukte handelte oder nicht, äußerte sich der EuGH auch noch zu der weiteren Frage, unter welchen Voraussetzungen das Bodenmaterial – unterstellt, dass es als Abfall anzusehen war – das Abfallende erreicht. Das Ende der Abfalleigenschaft ist in Art. 6 Abs. 1 AbfRRL geregelt. Nach dieser Vorschrift sind Abfälle, die ein Recyclingverfahren oder ein anderes Verwertungsverfahren durchlaufen haben, nicht mehr als Abfälle zu betrachten, wenn der betreffende Stoff oder Gegenstand für bestimmte Zwecke verwendet werden soll; ein Markt für diesen Stoff oder Gegenstand oder eine Nachfrage danach besteht; der Stoff oder Gegenstand die technischen Anforderungen für die bestimmten Zwecke erfüllt und den bestehenden Rechtsvorschriften und Normen für Erzeugnisse genügt; und die Verwendung des Stoffs oder Gegenstands insgesamt nicht zu schädlichen Umwelt- oder Gesundheitsfolgen führt.

Nach der österreichischen Rechtslage kann ein Abfall gemäß § 5 Abs. 1 des Abfallwirtschaftsgesetzes nur dann die Abfalleigenschaft ablegen, wenn er unmittelbar als Substitution von Rohstoffen oder von aus Primärrohstoffen erzeugten Produkten verwendet wird oder wenn die Vorbereitung zur Wiederverwendung abgeschlossen ist; bei Aushubmaterial endet die Abfalleigenschaft jedoch nur, wenn es als Substitution von Rohstoffen oder von aus Primärrohstoffen erzeugten Produkten verwendet worden ist. Die Verwertung durch Vorbereitung zur Wiederverwendung beendet die Abfalleigenschaft von Bodenmaterials nicht; dafür müssen nach dem österreichischen Bundes-Abfallwirtschaftsplan erst formale Anforderungen wie Aufzeichnungs- und Dokumentationspflichten erfüllt werden, die für den Umweltschutz jedoch irrelevant sind. Der EuGH prüfte daher die Frage, ob eine nationale Regelung, nach der die Abfalleigenschaft unkontaminierten Aushubmaterials der höchsten Qualitätsklasse nur dann endet, wenn das Material als Substitution von Rohstoffen verwendet wurde und formale Anforderungen erfüllt wurden, der europäischen Regelung des Art. 6 Abs. 1 AbfRRL widerspricht.

EuGH, Rn. 68: „[Es] ist davon auszugehen, dass eine Prüfung, die darauf abzielt, die Qualität und die Präsenz von Schadstoffen oder Verunreinigungen in Aushubmaterial zu ermitteln, als „[V]erfahren der Prüfung“ eingestuft werden kann, das unter den Begriff „Vorbereitung zur Wiederverwendung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 16 der Richtlinie 2008/98 fällt.“

In dieser Beantwortung der Frage stellte der EuGH zunächst auf den Anhang II der AbfRRL ab, in dem als Verwertungsverfahren auch die „Aufbringung auf den Boden zum Nutzen der Landwirtschaft oder zur ökologischen Verbesserung“ gelistet ist. Jedoch wies der EuGH sodann auf den 22. Erwägungsgrund der AbfRRL hin: Aus diesem geht hervor, dass für das Erreichen des Endes der Abfalleigenschaft ein Verwertungsverfahren in der bloßen Sichtung des Abfalls bestehen kann, um nachzuweisen, dass der Abfall die Kriterien für das Ende der Abfalleigenschaft erfüllt (Rn. 66). Dieser Erwägungsgrund wird in Art. 3 Nr. 16 AbfRRL konkretisiert, wo die „Vorbereitung zur Wiederverwendung“ als ein Verwertungsverfahren der bloßen „Prüfung, Reinigung oder Reparatur“ definiert wird, wodurch Erzeugnisse oder Bestandteile von Erzeugnissen, die zu Abfällen geworden sind, so vorbereitet werden, dass sie ohne weitere Vorbehandlung wiederverwendet werden können. Verfahren der Vorbereitung zur Wiederverwendung werden somit ausdrücklich als Verwertung eingestuft (Rn. 67). Der EuGH ging in seinem Urteil infolgedessen davon aus, dass eine Prüfung, mit der die Qualität und die Präsenz von Schadstoffen oder Verunreinigungen in Bodenaushubmaterial ermittelt wird, als Verfahren der Prüfung eingestuft werden kann, das unter den Begriff Vorbereitung zur Wiederverwendung im Sinne von Art. 3 Nr. 16 AbfRRL fällt. Folglich kann bei Abfällen, die einer solchen Vorbereitung zur Wiederverwendung unterzogen wurden, angenommen werden, dass sie ein Verwertungsverfahren im Sinne von Art. 6 Abs. 1 AbfRRL durchlaufen haben, wenn ihre Wiederverwendung keine weitere Vorbehandlung erfordert (Rn. 68). Eine nationale Regelung, nach der unkontaminiertes Aushubmaterial der höchsten Qualitätsklasse die Abfalleigenschaft nur dann verliert, wenn es unmittelbar als Substitution verwendet wird, ist demnach nicht mit der europarechtlichen Vorgabe in Art. 6 Abs. 1 AbfRRL vereinbar (Rn. 77 Spiegelstrich 2).

Ausgehobenes Bodenmaterial kann seine Abfalleigenschaft bereits im Ausbauzeitpunkt am Ort der Baustelle durch bloße Vorbereitung zur Wiederverwendung, insbesondere durch eine die Wiederverwendung eröffnende Bestimmung seiner Qualität, verlieren.

Mit anderen Worten: Das Abfallende kann auch bereits dann schon eintreten, wenn der Abfall für eine künftige Verwendung auf- oder vorbereitet wurde. Die Verwendung des Abfalls muss jedoch noch nicht operativ durchgeführt worden sein. Mit Blick auf die Verwertungsverfahrensart der Vorbereitung zur Wiederverwendung genügt eine Prüfung, Reinigung und/oder Reparatur; die Wiederverwendung selbst muss hingegen noch nicht durchgeführt worden sein. Der EuGH hat also zu Gunsten eines „frühen“ Abfall­endes entschieden. Für ausgehobenes Bodenmaterial heißt das: Ausgehobenes Bodenmaterial kann seine Abfalleigenschaft bereits am Ort der Baustelle durch bloße Vorbereitung zur Wiederverwendung, insbesondere durch eine die Wiederverwendung ermöglichende Bestimmung seiner Qualität, verlieren (Ausbauzeitpunkt) – und nicht erst dann, wenn es andernorts tatsächlich zu Bauzwecken verwendet wird (Wiedereinbauzeitpunkt).

Die weitere Prüfung, ob im Einzelfall der Porr Bau die vier Abfallende-Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Buchst. a) bis d) AbfRRL erfüllt waren, überließ der EuGH dem österreichischen Gericht.

4. Formalkriterien ohne Umweltrelevanz dürfen der Kreislaufwirtschaft nicht im Wege stehen

EuGH, Rn. 75: „Es ist nicht zulässig, dass derartige Formalkriterien die Wirkung haben, dass die Verwirklichung der Ziele der Richtlinie 2008/98 gefährdet wird.“

Abschließend äußerte sich der EuGH noch zu den von der Porr Bau gerügten Formalkriterien, die das Bodenaushubmaterial nach Auffassung der österreichischen Behörde für das Abfallende erfüllen musste und die sich hauptsächlich aus Aufzeichnungs- und Dokumentationspflichten zusammensetzten. Insofern verwies der EuGH zunächst darauf, dass nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 AbfRRL die Kriterien für das Ende der Abfalleigenschaft erforderlichenfalls Grenzwerte für Schadstoffe enthalten und möglichen nachteiligen Umweltauswirkungen des Stoffes oder Gegenstands Rechnung tragen. Zudem verwies der EuGH auf Art. 6 Abs. 4 AbfRRL, wonach die Mitgliedstaaten in dem dort gesteckten Rahmen bei der Festlegung von Umweltkriterien über einen Gestaltungsspielraum verfügen (Rn. 70). Formalkriterien können sich somit zwar grundsätzlich als notwendig erweisen, um die Qualität und Unbedenklichkeit des fraglichen Stoffes zu gewährleisten, doch müssen sie so festgelegt werden, dass ihre Ziele erreicht werden, ohne die Verwirklichung der Ziele der AbfRRL zu gefährden.

EuGH, Rn. 76: Bodenaushubmaterial, das einem Verwertungsverfahren (z.B. Vorbereitung zur Wiederverwendung durch Qualitätsbestimmung) unterzogen wurde und alle spezifischen Abfallende-Kriterien nach Art. 6 Abs. 1 AbfRRL erfüllt, verliert seine Abfalleigenschaft – ohne dass es noch auf nicht umweltrelevante Formalkriterien ankäme.

Nach Darstellung des österreichischen Gerichts verweigerte die österreichische Behörde die Feststellung des Abfallendes im Wesentlichen aufgrund der Nichteinhaltung von Formalkriterien, die für den Umweltschutz irrelevant waren. Es wäre aber nach Auffassung des EuGH eine Verkennung der Ziele der AbfRRL, wenn trotz Einhaltung der spezifischen Abfallende-Kriterien nach Art. 6 Abs. 1 AbfRRL bei unkontaminiertem Aushubmaterial der höchsten Qualitätsklasse das Ende der Abfalleigenschaft verneint würde, obwohl die Eigenschaften des Bodenmaterials zur Verbesserung landwirtschaftlicher Strukturen dienen können und obwohl sich wegen einer Qualitätskontrolle des Bodenmaterials die Unbedenklichkeit seiner Verwendung für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit sicherstellen lässt (Rn. 73). Würde nämlich die Wiederverwendung solchen Aushubmaterials durch Formalkriterien behindert, die für den Umweltschutz irrelevant sind, so liefen die Abfallende-Kriterien den mit der AbfRRL verfolgten Zielen zuwider, die nach den Erwägungsgründen 6, 8 und 29 darin bestehen, die Anwendung der Abfallhierarchie nach Art. 4 der Richtlinie sowie die Verwertung von Abfällen und die Verwendung verwerteter Materialien zur Erhaltung der natürlichen Rohstoffquellen zu fördern und die Schaffung einer Kreislaufwirtschaft zu ermöglichen. Gegebenenfalls würden solche Maßnahmen die praktische Wirksamkeit der AbfRRL beeinträchtigen (Rn. 74). Es ist daher nach Auffassung des EuGH nicht zulässig, dass derartige Formalkriterien die Wirkung haben, dass die Verwirklichung der Ziele der AbfRRL gefährdet wird (Rn. 75). Bodenaushubmaterial, das einem Verwertungsverfahren (z.B. Vorbereitung zur Wiederverwendung durch Qualitätsbestimmung) unterzogen wurde und alle spezifischen Abfallende-Kriterien nach Art. 6 Abs. 1 AbfRRL erfüllt, verliert demzufolge seine Abfalleigenschaft (Rn. 76) – ohne dass es noch auf darüberhinausgehende nicht umweltrelevante Formalkriterien ankäme.

5. Fazit und Ausblick

Folgende Kernthesen können dem „Porr-Urteil“ des EuGH vom 17.11.2022 entnommen werden:

  • Nicht jedes ausgehobene Bodenmaterial, das durch eine Baumaßnahme erzeugt wird und nicht wieder vor Ort eingebaut werden kann, sondern extern verwendet werden muss, ist Abfall. Stattdessen gilt: Wenn der Erzeuger schon vor dem Aushub die Qualität des Bodenmaterials bestimmt und eine dazu passende umweltgerechte und rechtmäßige Verwendung organisiert, ist das ausgehobene Bodenmaterial kein Abfall, weil es an einer Entledigung fehlt. Das „Porr-Urteil“ zeigt, dass pauschale Abfall-Einstufungen von Bodenaushub, der nicht vor Ort wieder eingebaut wird (wie sie z.B. in Ziff. 61. auf Seite 25 des sog. PFAS-Leitfaden des Bundes vertreten werden), unzutreffend sind.
  • Ausgehobenes Bodenmaterial kann als Nebenprodukt i.S.d. Art. 5 Abs. 1 AbfRRL = § 4 Abs. 1 KrWG und somit als Nicht-Abfall qualifiziert werden, wenn das ausgehobene Bodenmaterial die Nebenprodukt-Voraussetzungen erfüllt. Herstellungsverfahren, bei dem das ausgehobene Bodenmaterial erzeugt wird, ist die Bautätigkeit.
  • Eine vorübergehende Zwischenlagerung des ausgehobenen Bodenmaterials für den Zeitraum, der benötigt wird, um das Material seiner vorgesehenen Wiederverwendung operativ zuzuführen, ist für die Nebenprodukt-Qualifizierung unschädlich.
  • Die umwelt- und gesundheitsverträgliche Wiederverwendung von Bodenmaterial gemäß den einschlägigen Anforderungen trägt zur Abfallvermeidung, zur Ressourcenschonung und zur Kreislaufwirtschaft bei. Die vorausschauende Bewirtschaftung von Bodenmaterial auf eine Weise, die die Entledigung und somit die Abfalleigenschaft von ausgehobenem Bodenmaterial vermeidet, entspricht den Zielen des Abfall- bzw. Kreislaufwirtschaftsrechts.
  • Ausgehobenes Bodenmaterial kann seine Abfalleigenschaft (wenn im Einzelfall eine Entledigung anzunehmen ist) bereits am Ort der Baustelle durch bloße Vorbereitung zur Wiederverwendung, insbesondere durch eine die Wiederverwendung ermöglichende Bestimmung seiner Qualität, verlieren – also schon im Ausbauzeitpunkt, und nicht erst im Wiedereinbauzeitpunkt, wenn das Bodenmaterial andernorts tatsächlich zu Bauzwecken verwendet wird.

Die Entscheidung des EuGH wird somit sicherlich erhebliche praktische Bedeutung für den weiteren Umgang mit ausgehobenem Bodenmaterial in Deutschland haben. Sie zeigt insbesondere rechtssichere Wege auf, wie ausgehobenes Bodenmaterial im Sinne der Abfallvermeidung, der Ressourcenschonung und der Kreislaufwirtschaft auch ohne Abfalleigenschaft als Nicht-Abfall umweltgerecht und gesundheitsverträglich verwendet werden kann, ohne dass Abfallbehörden überzogene formelle Anforderungen stellen dürfen.

Artikel als PDF herunterladen
Gregor Franßen, EMLE
Rechtsanwalt | Partner

Zurück